Der Sommer des Commisario Ricciardi
bemerkte. Signora Maria Colombo konnte sehr eigensinnig sein, obgleich sie eine zärtliche Gefährtin und tadellose Mutter war. Probleme ergaben sich meistens dann, wenn diese beiden Eigenschaften im Widerspruch zueinander standen, und genau das schien jetzt der Fall zu sein. Noch bevor die Ladenglocke zu bimmeln aufgehört hatte, ahnte Giulio, was der Grund ihres Besuchs war. Es ging um ihre Tochter Enrica, genauer um deren Hochzeit.
Nicht, dass es sich dabei um ein nahe bevorstehendes Ereignis handelte – um die Wahrheit zu sagen, war das sogar der Kern des Problems: Es stand weit und breit keine Heirat in Aussicht. Maria näherte sich der Kasse, einemgewaltigen Apparat aus glänzendem Metall, dem Stolz des Ladens, hinter dem ihr Mann sich zu verstecken versucht hatte.
»Kann ich dich kurz sprechen, allein, wenn’s geht?«
Oha. Die Sache war ernst.
»Sicher. Marco, übernimm du die Kasse. Wir sind im Hinterzimmer.«
Wie in allen Hutgeschäften und Schneidereien befand sich hinter dem Laden ein Raum, der als Änderungswerkstatt genutzt wurde. Jetzt gerade war niemand darin, weil die beiden Mitarbeiterinnen essen gegangen waren.
Maria kam gleich zur Sache.
»Was gedenkst du wegen Enrica zu tun?«
Das war ein immer wieder gern gewähltes Gesprächsthema. Der Vater liebte seine älteste Tochter sehr, die genau wie er gewissenhaft und stets gut gelaunt war; er hatte nichts dagegen, sie so lange wie möglich im Haus zu behalten. Seine Frau, die das spürte, ließ keine Gelegenheit aus, um ihn und vor allem Enrica darauf aufmerksam zu machen, dass sie mit ihren fünfundzwanzig Jahren nun alt genug war, ihr eigenes Leben zu beginnen. Schließlich waren es schwere Zeiten und das Geschäft reichte nicht mehr aus, um eine so große Familie zu ernähren, das heißt zwei Familien, wenn man bedachte, dass die zweite Tochter mit Mann und Kind noch bei ihnen lebte. Wenn Enrica sich wenigstens darauf einlassen würde, jemanden kennenzulernen, anstatt jeden jungen Mann, der ihr näherkam, sofort zu entmutigen.
Als Maria am Abend zuvor ihr übliches Gejammer angestimmt hatte, hatte ihr Mann sie ungeduldig unterbrochen und gebeten, ihn Radio hören zu lassen. Daraufhinwar sie zwar verstummt, doch ihr Blick verhieß nichts Gutes. Und tatsächlich stand sie ja jetzt vor ihm, dachte Giulio, entschlossener und kampfeslustiger denn je.
»Du verstehst den Ernst der Lage nicht. Deine Tochter hat keinen Mann und droht ihr ganzes Leben lang allein zu bleiben. Noch sind wir da, aber das wird nicht ewig so sein. Was wird aus Enrica, wenn wir tot sind? Soll sie dann in einem Altenheim enden, ganz ohne Familie?«
Es war unmöglich, Maria in ihrer Litanei zu bremsen, das wusste Giulio nur zu gut. Lieber gab man sich versöhnlich.
»Aber was soll ich denn tun? Sie schnappen, schminken, anziehen und auf die Straße setzen? Wenn sie nicht ausgehen will, was kann ich da schon machen?«
Auf diese Antwort hatte Maria gewartet.
»Wenn sie niemanden kennenlernen möchte, müssen wir ihr jemanden ins Haus bringen. Hör zu, was ich mir gedacht habe.«
XI Alles muss normal sein. Alles muss sein wie jeden Tag.
Du hast aufgeräumt, damit niemand sagen kann, die Kinder würden vernachlässigt oder es läge Staub auf dem Küchenschrank. Damit es nicht heißt, die Gardinen seien fleckig oder die Bettwäsche schmutzig.
Jetzt bist du einkaufen gegangen, um Essen zu besorgen: Makkaroni, Brot, Tomaten. Du musst etwas Gutes zu Mittag kochen und später ein leckeres Abendessen. Morgen genauso. Und übermorgen. Jeden Tag, weil er nach Hause kommen wird, dir gegenüber sitzen und lächeln. Alles wird wieder sein wie früher.
Es ist heiß, du läufst schwer beladen unter der brennenden Sonne. Dir ist ein wenig schwindelig, und niemand hilft dir.
Du lächelst trotzdem.
»Brigadiere, schön, Sie zu sehen. Bitte, kommen Sie rein, machen Sie sich’s bequem, dort auf dem Sitzkissen neben mir. Stört’s Sie, wenn ich weiteresse? Ich hab ja schon mit Ihnen gerechnet.«
»Wer hat dir denn gesagt, dass ich komme?«
Bambinella zog sich kokett den Seidenkimono über der Brust zusammen und hielt eine Hand vor den Mund, um ein Glucksen zu verbergen.
»Niemand hat’s mir gesagt. Aber jedermann weiß, dass gestern die Herzogin von Camparino ermordet worden ist, und eine Freundin, die als Dienstmädchen im Haus gegenüber arbeitet, hat mir gesagt, dass Sie und der Commissario hinbestellt wurden; arbeiten Sie denn auch sonntags?«
Maione, halb auf
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