Der Sommer des Commisario Ricciardi
wollen, der eher ihre gesellschaftliche Stellung als ihre Gefühle betraf. Ihre Hände steckten in schwarzen Netzhandschuhen und die Beine in Netzstrümpfen.
Eleganz war eines von Livias besonderen Kennzeichen, ebenso wie ihre geschmeidigen Bewegungen und der betörende Duft ihres Parfums. Sobald sie irgendwo in Erscheinung trat, konnte sie sich der Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher sein.
Die beiden Männer waren aufgestanden und kamen anzüglich grinsend auf sie zu. Offensichtlich gehörten sie zur begrenzten Spezies diskreter Gigolos, die einsamen Touristinnen, insbesondere Ausländerinnen, die Ferien versüßten. Livia lächelte und wies auf den einzigen Herrn der kleinen Schar, dessen Dienste sie in Anspruch nehmen wollte: den Droschkenkutscher.
Der Mann nahm seinen Hut ab, verbeugte sich und fragte:
»Wo darf ich Sie hinfahren, Signora?«
Livia nannte ihm lächelnd ihr Ziel. Ihre Offensive hatte begonnen.
XVI Nachdem sie das Zimmer verlassen hatten, bat der Kommissar Concetta nachzusehen, ob der Sohn des Herzogs sie empfangen könne; Ricciardi und Maione warteten solange im Vorzimmer, in Gesellschaft der Herzogin, die ohne Unterlass ihre Klage über den Verlust des Rings vorbrachte.
Ricciardi hatte seine Hände in den Hosentaschen vergraben und überlegte schweigend, während er durchs Fenster auf den Innenhof schaute. Die Höhe des Gebäudes ließ einen Großteil des Hofs im Schatten verschwinden, einschließlich des prächtigen, farbenfrohen Hortensienbeets. Der Kommissar fragte sich, ob der Mörder sich wohl in einer der vielen Nischen versteckt hatte oder ob er bei der Rückkehr der Herzogin gemeinsam mit ihr hereingekommen war.
Ein Teil seiner Gedanken verweilte jedoch bei dem, was der Herzog gesagt hatte; es brachte ihn dazu, über sich selbst und sein Leben nachzudenken. Ein Mensch stirbt in dem Augenblick, in dem er niemandem mehr etwas bedeutet; die Worte hatten ihn tief berührt. Er dachte an Rosa und ihre übertriebene mütterliche Fürsorge, an Maione und die spröden, bruchstückhaften Vertraulichkeiten, die sie hin und wieder austauschten; an Doktor Modo, seine beißende Ironie und die subtilen Foppereien, die ihr Verhältnis zueinander kennzeichneten, und an ihre gelegentlichen Gespräche bei einem Glas Bier; an seine Mutter und ihre stille Liebe, ihr müdes Lächeln.
Lebe ich denn?, fragte er sich. Und wenn nicht, wann bin ich gestorben? Vom Fenster aus sah er Sciarra, der unten im Hof damit beschäftigt war, die trockenen Blätter aus dem Blumenbeet aufzusammeln. Nicht weit von ihm stritten sich die beiden Kinder, und das größere versteckte etwas unter seinen Kleidern, wahrscheinlich etwas zu essen. Das Männlein mit den zu langen Ärmeln drehte sich manchmal um und tat, als wolle es ihnen nachlaufen, um dann lächelnd weiterzuarbeiten. Er zumindest lebte ganz sicher noch. Die Frau hinter Ricciardi, deren tief empfundenen Abschiedsschmerz er im Nacken spürte, nicht.
Er musste unvermittelt an Enrica denken, fragte sich, wer wohl der Mann sei, der ihr lächelnd ins Ohr geflüstert hatte. Er war nicht wie er selbst: nicht zur Einsamkeit verdammt. Ricciardi spürte wieder den Stich im Magen; auch dieses Gefühl wurde ihm allmählich vertraut.
Leise kam Concetta, um sie zu rufen. Der junge Herr konnte sie empfangen.
Endlich kümmerst du dich mal um dich. Du hast dir die Haare gewaschen und spülst sie mit dem Wasser aus der Kanne aus, das du vorher in der Küche warm gemacht hast. Jetzt kämmst du sie vor dem Spiegel, wie schon lange nicht mehr. Müßig fragst du dich, ob Lockenwickler wohl die Mühe wert sind, anstatt sie wie sonst im Nacken festzubinden. Auch frei herabfallend sehen sie nicht schlecht aus; sie sind nicht mehr so stumpf und glänzen wieder.
Sogar dein Blick wirkt anders; du fragst dich, was es ist. Was daran neu ist. Der Anflug eines Lächelns etwa?
Vielleicht möchtest du bereit sein.
Auf der Treppe war es dank der dicken Mauern fast kühl. Maione, der hinter Concettas stattlichem Rücken dennoch keuchte und schwitzte, fragte die Haushälterin:
»Wo doch so viele Zimmer leer stehen – wie kommt’s da, dass der junge Herr ausgerechnet im obersten Stock lebt?«
Concetta antwortete leise, als wäre sie in der Kirche.
»Er ist vor zehn Jahren, nach dem Tod seiner Mutter, dort hinauf gezogen. Er mag Pflanzen sehr und hält sie auf der Terrasse; wahrscheinlich möchte er in der Nähe sein. Außerdem hat er’s bequem dort, es gibt zwei große
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