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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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hinzusetzen. Er hatte den Pianisten sogar gebeten, sein Lieblingslied zu spielen. Fügsam war sie ihm gefolgt und hatte unterdessen überlegt, wie sie möglichst bald würde aufbrechen können. Da erblickte sie Ricciardi.
    Zuerst hatte sie an ein Trugbild geglaubt, so sehr entsprach das, woran sie dachte, dem, was sie sah; doch leider war nicht sie die Frau, die jetzt den Mann anlächelte, den Enrica liebte.
    Sie ließ sich zu einem Tisch führen und setzte sich auf den ihr angebotenen Stuhl. Unablässig schaute sie dabei die Frau an, die ihr das Gesicht zuwandte, während Ricciardi mit dem Rücken zu ihr saß. In Enricas Augen war Livia stark und auffällig geschminkt, exzentrisch gekleidet und hatte ein herausforderndes Lächeln; kurz gesagt, sie zog zu viel Aufmerksamkeit auf sich – das verhieß sicher nichts Gutes. Zwar musste sie zugeben, dass ihre Gesichtszüge ebenmäßig waren und sie, soweit zu erkennen war, einen schönen Körper hatte, doch diese Netzstrümpfe und -handschuhe, der Hut mit dem hochgeklappten Schleier, der dunkle Lippenstift – einfach unmöglich!
    Zu gern wäre sie aufgestanden und hätte die Frau geohrfeigt. Wie vulgär sie Ricciardi ansah, so beharrlich und unbeirrt, ohne auf irgendetwas anderes zu achten. Dachte sie vielleicht, ihn damit betören zu können? Wusste sie denn nicht, dass der Mann ein sanftes, zartfühlendes Gemüt hatte, dass er ihr über ein Jahr lang Abend für Abend beim Sticken hatte zusehen können, ohne je zu sprechen?
    Sie spitzte die Ohren, um zu hören, was die beiden sich sagten, doch sie waren zu weit weg; der Akzent der Frau schien allerdings nicht neapolitanisch zu sein, vielleicht kam sie aus dem Norden. Das hätte sie sich denken können: Die Norditalienerinnen waren dafür bekannt, schamlos und freizügig zu sein.
    Dann merkte sie, dass auch er mit ihr sprach, und als er sich umdrehte, um nach dem Kellner zu rufen, kamen ihr die Tränen.
     
    Ricciardi hatte plötzlich den Eindruck, zum Nabel der Welt geworden zu sein: Livia sah ihn an und lächelte, Enrica sah ihn an und weinte, der tote Rechtsanwalt sah ihn an und sprach mit ihm; Männer und Frauen im Café sahen ihn an und tuschelten, der sogleich herbeigeeilte Kellnersah ihn an und fragte ihn, was er wünsche. Der einzige, der sich nicht um ihn kümmerte, war Enricas junger Begleiter; er war, wie üblich, damit beschäftigt, ihr etwas ins Ohr zu flüstern, und Ricciardi war ihm unsinnigerweise dankbar dafür. Die Situation, in der er sich befand, war definitiv nichts für ihn.
    Er wollte aufstehen und nach draußen flüchten – oder zu Enrica gehen, um ihr zu sagen, dass die Dinge nicht so standen, wie sie schienen. Doch was konnte er schon einer Frau sagen, die allem Anschein nach vielleicht gerade das Glück einer beginnenden Verlobung erlebte? Außerdem wollte er Livia nicht verletzen, er war bereits zu unwirsch mit ihr umgegangen. Inzwischen war er unkonzentriert gewesen und hatte nicht zugehört, was sie ihn gefragt hatte.
    »Entschuldige, was hast du gesagt?«
    »Ich habe gefragt, ob du auch Urlaub hast oder ob du arbeitest.«
    »Ich arbeite. Weißt du, ich mache nicht oft Ferien. Wir ermitteln gerade in einem Fall, dem Mord an einer Frau. Um ehrlich zu sein, es ist schon spät und ich müsste heute noch jemanden vernehmen.«
    Livia wollte sich nach all dem Warten jedoch nicht so leicht abservieren lassen.
    »Aber du hast ja nicht einmal deine Sfogliatella und den Kaffee angerührt. Iss mal, und danach lasse ich dich gehen. Allerdings nicht bevor wir ausgemacht haben, wo und wann wir uns wiedersehen. Ich sagte dir ja schon, ich bin deinetwegen hier, und diesmal wirst du mir nicht davonlaufen und mich im Regen stehen lassen.«
    »Auch weil es hier, wie du siehst, schon seit Monatennicht regnet. Also gut, ich esse erst; aber dann muss ich weg.«
    In seinem Rücken spürte er Enricas Blick und den Schmerz des toten Anwalts. Er hätte nicht sagen können, wer von den beiden ihm größeres Unbehagen bereitete. Eines wusste er aber ganz sicher: Der Gedanke daran, dass sie mit diesem Mann zusammen war, ließ ihm keine Ruhe. Er wollte weg, und zwar sofort.
    Mit wenigen Bissen schlang er die Sfogliatella hinunter und trank den Kaffee in einem Zug aus,. Livia setzte ihn derweil über ein kompliziertes Ausflugsprogramm ins Bild, bei dem Museumsbesuche, Stadtbesichtigungen und Badetage vorgesehen waren.
    »… und natürlich erwarte ich, dass du mich zum Abendessen ausführst oder ins Theater, wenn dir

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