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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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halten!«
    »Mit Ettore hast du recht, und glaub nicht, dass ich Angst bekomme, wenn Garzo bellt. Wir müssen der Sache weiter nachgehen. Zunächst würde ich gern herausfinden, ob er an jenem Abend zu Hause war oder vielleicht kurz nach seiner Stiefmutter zurückkam. Draußen auf der Straße wurde kräftig gefeiert, wie gesagt, falls es also einen Streit gab, kann es sein, dass niemand ihn gehört hat. Morgen sehen wir weiter. Jetzt lass uns heimgehen, es ist spät und trotzdem noch so heiß. Ich habe nicht einmal Hunger.«
    »Sie Glücklicher! Ich krieg bei der Hitze nur noch mehr Hunger. Gute Nacht also und bis morgen.«

    XXII    Rosa saß strickend in ihrem Lehnstuhl und schaute Ricciardi beim Essen zu. Besser gesagt schaute sie ihm dabei zu, wie er im Essen herumstocherte und es mit der Gabel auf dem Teller hin und her schob.
    Das war wirklich ungewöhnlich, denn auch die übelste Laune hatte ihm bisher nie seinen gesunden Appetit verderben können. Nicht, dass er die Speisen genießen würde: Meistens schlang er hastig einen Bissen nach dem anderen hinunter, die Stirn von einer tiefen Falte durchzogen, als müsse er sich auf eine sehr schwierige Arbeit konzentrieren. Doch am Ende war sein Teller leer.
    Heute nicht. Diese Ausnahmesituation bestürzte die Kinderfrau. Sie verzichtete daher sogar auf ihre übliche Prophezeiung, er werde sich unweigerlich den Magen ruinieren, wenn er weiterhin auswärts esse. Ricciardi warblass, abwesend und noch stiller als sonst. Auf ihre Frage, ob es Probleme bei der Arbeit gegeben habe, hatte er vage genickt, sich aber nicht weiter geäußert.
    Rosa glaubte, sein Gemütszustand müsse mit Fräulein Colombos Wohnzimmergeflüster zu tun haben. Sie konnte nicht verstehen, warum ein Mann wie Ricciardi sich nicht rührte, die Initiative ergriff und den direkten Kontakt zu dem Mädchen suchte. Es mangelte ihm an nichts: Jugend, Vermögen, Bildung. Und in ihren Augen war er zudem noch wunderschön.
    Während sie weiterstrickte, warf sie ihm über den Brillenrand hinweg verstohlene Blicke zu und seufzte. Das Glück war ein seltener Vogel, der sich nur hin und wieder irgendwo niederließ. Sie erinnerte sich an Ricciardis Mutter, der sie sehr zugetan gewesen war und bis zu ihrem Tod beigestanden hatte. Auch sie war wie ihr Sohn ein sehr stiller Mensch gewesen; ein nicht greifbares, unverständliches Leid hatte die von Natur aus sanftmütige Frau stets begleitet. Und auch bei ihr hatte es, wie bei ihrem Sohn, lange Momente geistiger Abwesenheit gegeben, in denen sie in die Ferne starrte und niemand wusste, wohin ihre Gedanken sie trugen. Auch sie hatte alles gehabt, was man zum Glücklichsein brauchte, und war es trotzdem nicht gewesen.
     
    Ricciardi stand vom Tisch auf. Er merkte, dass Rosa sich um ihn sorgte, doch es gelang ihm nicht, so zu tun, als sei alles in Ordnung. Nicht heute Abend. Er fürchtete den Augenblick, in dem er sich ans Fenster stellen würde; das helle Rechteck auf der anderen Straßenseite, wo sich das vertraute, heile Leben abgespielt hatte, das ihn so beruhigte, zog ihn an und wies ihn gleichzeitig ab. Und was gibt es schon Natürlicheres, überlegte er bitter, als eine Begegnung zwischen Mann und Frau, eine Verlobung und eine Hochzeit, eine neu entstehende Familie?
    Ich bin derjenige, der nicht normal ist, dachte er, das sollte ich nicht vergessen. Ich werde von den Toten verfolgt, die mir unaufhörlich von ihrem Schmerz erzählen, mir die Stimmung und das Leben vergällen. Ich bin derjenige, der nicht von einer Frau und einer Familie träumen darf, erst recht nicht von Kindern.
    Und warum, fragte er sich selbst, wie schon unzählige Male zuvor, geht es mir dann so schlecht? Warum lässt der Stich in meinem Magen nicht nach, warum bin ich verzweifelt? Ich weiß nicht, was ich will, das ist es. Und auf mir liegt ein Fluch, wie meine Mutter es mir bereits vor fünfundzwanzig Jahren sagte.
    Er schloss die Tür seines Zimmers und näherte sich mit geschlossenen Augen dem Fenster. Nach einem tiefen Seufzer öffnete er sie, nur um die Fensterläden der Küche im Hause Colombo geschlossen zu sehen. Und ärgerlicherweise brannte weiter links im Wohnzimmer Licht.
     
    Als Enrica zum Geschäft ihres Vaters zurückgekehrt war, hatte sie eine Maske kalter Gleichgültigkeit getragen. In ihrem Herzen war der Schmerz dem Zorn gewichen: Absurderweise fühlte sie sich betrogen, ganz so, als habe sie Ricciardi auf frischer Tat ertappt. Auch fühlte sie sich törichter denn je.

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