Der Sommer des Commisario Ricciardi
Präfekten einberufen. Alle, Direktoren, Chefredakteure. Und der sagte uns, dass dem Rundschreiben von 1926 ab sofort strengstens Folge zu leisten sei. Ich erinnere mich an die genauen Worte: ›… insbesondere in Bezug auf die Meldung von Selbstmorden, Verbrechen aus Leidenschaft, Gewalttaten et cetera, die schwache und geschwächte Gemüter in gefährlicher Weise beeinflussen könnten.‹ Können Sie sich das vorstellen? All das, was um uns herum geschieht, was Sie von morgens bis abends sehen, sollte für die Zeitungen nicht mehr existieren.«
Ricciardi verstand nicht, was das mit der Ermordung Adrianas zu tun hatte.
»Und?«
Capece starrte ihn mit geröteten Augen an, als sei er ein begriffsstutziger Schüler.
»Und? Also verlor das Schreiben für mich seinen Reiz. Wenn ich nur noch über das Fest der Baronin Soundso oder den Besuch irgendeines Prinzen berichten darf, über den Stapellauf eines Schiffs oder den Überflug eines Wasserflugzeugs, dann hat das mit meinem Beruf nichts mehr zu tun. Aber schreiben ist alles, was ich kann, also habe ich weitergemacht, wenn auch ohne Motivation. Dann bin ich Adriana begegnet und das Leben hatte wieder einen Sinn. Ich möchte Ihnen damit sagen, dass wir nicht wie früher Recherche betreiben können, um herausfinden, wie wer wen ermordet hat. Gerade in Adrianas Fall bin ich sogar dankbar dafür. Es quält mich schon genug, sie geohrfeigt und allein gelassen zu haben.«
Er betrachtete seine Handflächen, als sähe er sie zum ersten Mal.
»Verstehen Sie? Als ich sie zum letzten Mal berührte, war es, um sie zu ohrfeigen.«
Er begann zu schluchzen. Maione und Ricciardi wechselten einen Blick; für beide spiegelten sich im Weinen des Mannes die Gefühle wider, die sie selbst zurzeit so schmerzhaft empfanden.
Als Capece wieder zu sich gekommen war, fragte Ricciardi ihn freundlich:
»Verzeihen Sie, Capece, aber Sie verstehen, dass ich Sie das fragen muss: Besitzen Sie einen Revolver?«
Capece hob den Kopf und sah Ricciardi herausfordernd an:
»Zuerst müssen Sie mich festnehmen, Ricciardi. Wenn ich unter Verdacht stehe, müssen Sie mich zuallererst festnehmen. Ich antworte Ihnen nicht und werde auch keine weiteren Fragen beantworten. Geben Sie bloß Acht, ich kenne Ihre Methoden. Ich besitze noch Waffen, wissen Sie, wenn auch nicht die, die Sie meinen. Ich kann Sie noch immer in Stücke reißen, mit einem einzigen Artikel. Und jetzt raus hier. Ich will trinken. Und schlafen.«
Ricciardi und Maione gingen langsam und bedrückt ihres Weges. Capeces Vernehmung hatte sie tief berührt. Der Brigadiere sprach schließlich als Erster:
»Also, ich weiß nicht. Der Mann tut mir ja schrecklich leid, doch ich muss ehrlich sagen, dass ich ihm auch zutraue, vor Kummer komplett durchzudrehen. Solche Typen sind mir schon untergekommen: brave, solide Familienväter, aber leider allzu empfindlich. Im Guten wie im Schlechten.«
»Da sagst du was Wahres. Er ist sicher ein grundanständiger Mensch, doch auch fähig, aus verletztem Stolz oder aus Angst, etwas zu verlieren, eine Wahnsinnstat zu begehen. Am Ende hat er sogar versucht, uns einzuschüchtern, aus Verzweiflung wahrscheinlich.«
Maione steckte einen Finger in den Hemdkragen, um sich ein wenig Luft zu verschaffen.
»Die machen uns die Arbeit wirklich nicht gerade leicht. Dieser Blödmann von Garzo droht uns, Capece droht uns, und der junge Pflanzennarr auch. Nur wir können keinem drohen, weil es sonst Ärger gibt.«
Ricciardi nickte.
»Versuchen wir trotzdem, unsere Arbeit zu machen. Sei so gut und klapper mal die Spelunken ab, frag nach, ob sich jemand an Capece erinnert, wie er sich betrank. Vielleicht ist er ja irgendwo eingeschlafen, jemand hat ihn gesehen und wir sind die Sorge los. Wenn nicht, lassen wir uns einen Durchsuchungsbefehl geben und sehen bei der Zeitung oder bei ihm zu Hause nach, ob er zufällig eine Beretta 7,65 hat.«
»Jawohl, Commissario. Zu dumm nur, dass da nicht bloß getrunken, sondern auch gegessen wird, das macht mich in letzter Zeit irgendwie nervös. Übrigens halt ich auch den Pflanzennarr für verrückt genug. Vielleicht hat er irgendwo eine Beretta liegen, wer weiß?«
Ricciardi warf Maione einen raschen Blick zu.
»Pass bloß auf, dass du nicht auch noch zum Mörder wirst, mit deiner Diät! Am Ende muss ausgerechnet ich dich in den Knast stecken.«
Maione lachte bitter.
»Im Knast gibt’s derzeit sicher mehr zu essen als bei unsdaheim. Selbst wenn die mich bei Wasser und Brot
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