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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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Aus welchem Grund hätte ein so gut aussehender, gesellschaftlich hoch stehender, junger, attraktiver Mann sich nicht mit einer Frau treffen sollen? Wer weiß, vielleicht war sie seine Verlobte, und da sie von außerhalb kam, worauf ihr Akzent schließen ließ, sahen sie sich nur selten. Schweren Herzens musste sie sich eingestehen, dass die andere Frau anziehend war, wenn man ihren Typ mochte. Zu auffallend für Enricas Geschmack, dennoch sehr anziehend. Sogar dieser Hohlkopf Sebastiano hatte, als sie das Café verließen, nicht umhingekonnt, der Frau einen bewundernden Blick zuzuwerfen.
    Zwar stellte ihr Nachbar sich Abend für Abend ans Fenster, um ihr beim Sticken zuzusehen, doch was bedeutete das schon? Der arglose Zeitvertreib eines Mannes, dessen Verlobte weit weg war. Und dann hatte sie ihn zum Abschied auch geküsst. Der Gedanke daran verursachte Enrica Magenschmerzen. Merkwürdig, überlegte sie: Eifersucht geht durch den Magen. Ein regelrechter Schmerz. Wie eine Gastritis.
    Zu ihrem Vater hatte sie nichts gesagt. Seine Erleichterung war deutlich sichtbar gewesen. Stattdessen hatte sie Sebastianos Bitte nachgegeben, sie nach dem Abendessen zu Hause besuchen zu dürfen. Warum auch nicht? Es würde sie ablenken, und alles war besser, als sich ans Fenster zu setzen, um zu sticken und dabei auf die dunkle Hauswand gegenüber zu starren. Die andere war ja da – er würde sicher ausgehen.
    Auf dem Nachhauseweg dachte sie an die nun folgenden Tage, an denen sie nicht mehr auf den Abend warten würde. An Abende ohne Träume. Sie spürte, wie Tränen ihr die Wangen herabliefen.
     
    Ricciardi ging ins Esszimmer, ohne Licht zu machen. Im Dunkeln trat er zum Radio und drehte aufs Geratewohl an irgendeinem der Knöpfe. Orchestermusik erfüllte denRaum. Im gelben Schein des Radiogeräts konnte man die Umrisse des Sofas und der beiden Sessel erkennen; er setzte sich auf den Sessel, von dem aus ein Teil des erleuchteten Fensters gegenüber zu erkennen war. Im Wohnzimmer der Familie Colombo sah er ab und zu Enricas Vater oder Mutter vorübergehen, die lächelten oder sich lebhaft unterhielten. Enrica selbst sah er nicht. Er stellte sich vor, dass sie irgendwo saß und verzückt den jungen Mann anblickte, mit dem sie sich am Morgen getroffen hatte.
    Aus dem Radio erklang nun eine Männerstimme. Das Lied war schon ein paar Jahre alt; er erinnerte sich an die Melodie, einen Tango. Auf die Worte hatte er allerdings noch nie achtgegeben. Es hieß darin:
     
    »Nein, das ist keine Eifersucht,
    nur meine Leidenschaft.
    Wenn ein andrer dich ansieht, bebe ich,
    weil ich deine Schönheit für mich ganz allein will.
    Nein, das ist keine Eifersucht,
    ich weiß, dass du immer mir gehören wirst.
    Ich weiß selbst nicht, was mich so verzehrt.
    Doch keine Angst: Eifersüchtig bin ich nicht.«
     
    Das war entschieden zu viel. Abrupt erhob sich Ricciardi aus seinem Sessel, stellte das Radio ab und nahm seine Jacke. Er brauchte frische Luft.
     
    Zwei Stunden später lief er immer noch durch die Straßen. Außer ihm war niemand mehr unterwegs, nur hier und da schlüpfte eine dunkle Gestalt hastig und verstohlen in einen halb offenen Hauseingang. Ob Tag oder Nacht, heiß oder kalt – die Händel hörten in dieser Stadt nie auf.
    Ab und zu bot sich Ricciardi der Anblick eines Toten – eine Gesellschaft, die er nie loswurde. Er konnte immer darauf zählen. Ironie des Schicksals: Der einsamste Mann der Welt konnte nie ganz allein sein.
    Er bog um eine Ecke und fand sich auf einem kleinen Platz wieder. Aus einem Palazzo war leise Musik zu hören, vielleicht Radiomusik oder eine Tanzkapelle. Ohne genau zu wissen warum, blieb er im Schatten stehen, gerade als eine dunkel gekleidete Gestalt aus dem Tor heraustrat.
    Ricciardi schärfte seinen Blick, denn die Bewegungen der Person kamen ihm vertraut vor. Er hörte ein nervöses Lachen. Die Musik war etwas lauter geworden, als sei die Tür, hinter der man spielte, offen geblieben. Er sah, wie sich ein Arm aus dem Tor herausstreckte, der den Hinaustretenden anscheinend zurückhalten wollte.
    »Geh nicht. Noch nicht.«
    Die Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Er hatte sie nur gehört, weil es so still um ihn herum war.
    Die Gestalt drehte sich um, und ihr Gesicht wurde von dem Lichtschein erhellt, der aus dem Haus kam. Ricciardis Eindruck bestätigte sich: Er hatte die Person schon einmal gesehen. Noch nie gesehen hingegen hatte er die Person, die sich jetzt aus dem Tor herausbeugte und dem

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