Der Sommer des Commisario Ricciardi
aus.
»Wofür halten Sie mich, Commissario? Glauben Sie vielleicht, es ist meine Aufgabe, Klatsch zu sammeln? Ich spende einem sehr kranken Mann Trost, er hat nicht einmal die Kraft, sich hinzuknien. Ganz sicher achte ich nicht darauf, wer im Haus empfangen oder was dort geredet wird.«
Ricciardi schüttelte heftig den Kopf.
»Keineswegs, Pater, Sie haben mich völlig missverstanden. Ich weiß, was für ein Mensch Sie sind. Aber in dem Haus ist etwas Schreckliches geschehen und es kann noch mehr passieren. Mord ist eine Narbe, die nicht selten wieder aufreißt; und ich habe die Pflicht, das zu verhindern. Ich möchte keinen Klatsch von Ihnen hören, der interessiert mich so wenig wie Sie. Nur Ihre Eindrücke.«
Der Priester lächelte beruhigt.
»Viel kann ich Ihnen nicht sagen, ich lese ja bloß die Messe und gehe dann wieder. Die Haushälterin, Signora Concetta, ist so still und diskret, dass ich manchmal darüber erschrecke, wie plötzlich sie irgendwo auftaucht. Sciarra, den Pförtner, haben Sie ja gesehen: ein drolliges Männlein, das seine Zeit damit verbringt, die Hortensien zu gießen und seine Sprösslinge zu jagen, nie habe ich Kinder so viel essen sehen. Von seiner Frau sieht und hört man nichts. Ich würde sagen, dass Ihre Narbe nicht bei der Dienerschaft des Hauses zu finden ist.«
»Und der Herzog?«
»Der Herzog hat einen Fehler begangen. Seine Frau ist gestorben, sein Sohn war schwierig, er hatte immer nur sehr wenig mit ihm zu tun. Also glaubte er, wieder jung werden zu können, indem er eine junge Frau heiratet, doch dann ist er krank geworden. Mit der Zeit verlor er das Interesse an weltlichen Dingen, an Umgangsformen und Etikette. Er ist ein guter Mensch, müssen Sie wissen. Er hat keine Angst vor dem Tod; für ihn bedeutet er dasEnde seiner Schmerzen und die Möglichkeit, wieder mit seiner ersten Frau zusammen zu sein, die er sehr geliebt hat.«
Der Kommissar erinnerte sich an die verächtlichen Worte des Alten über seine zweite Frau.
»Gegenüber der Herzogin empfand er jedoch eine wahre Feindseligkeit. Das wurde mir klar, als wir ihn befragt haben.«
»Das ist nur menschlich, denke ich. Der Herzog liegt im Sterben, er ist ans Bett gefesselt. Die Herzogin war … eine unbeschwerte Frau, die sich vom Leben dahintragen ließ wie ein Blatt im Wasser. Sie war nicht niederträchtig, bloß lebhaft, wie ein spielendes Kind. Ich habe sie nicht oft gesehen, ich glaube nicht, dass sie sehr religiös war. Vielleicht verzieh ihr Mann es nicht, dass sie jedes Interesse an Haus und Familie verloren hatte. Ich kann es nicht sagen, er hat mit mir nie darüber gesprochen.«
Ricciardi dachte nach.
»Und der Sohn? Wie stand er zu seiner Stiefmutter? Dieser Frage weichen alle aus, außer ihm selbst. Er hat uns klar und deutlich gesagt, dass er sie hasste.«
Don Pierino zuckte mit den Schultern.
»Ettore ist anders als die meisten Menschen. Er ist hochgebildet und sehr fromm. Aber er ist auch ein junger Mann mit strengen Grundsätzen. Seinem Vater hat er dessen zweite Heirat nie verziehen und jeden Kontakt zu ihm abgebrochen, ich glaube, sie sprechen seit Jahren nicht miteinander. Die Herzogin war das genaue Gegenteil seiner armen Mutter, deren Andenken für ihn sehr wichtig und gegenwärtig ist. Ich denke, sein Verhalten ist normal. In jedem Fall aber halte ich ihn für unfähig zu einer solch brutalen Tat. Wie gesagt, er ist sehr fromm.«
»Und wie ist sein Leben? Mit wem verkehrt er? Wie kommt es, dass er nicht geheiratet hat?«
Don Pierino lächelte erneut, nach kurzem Zögern.
»Jeder hat sein Wesen und seine Freundschaften, nicht wahr, Commissario? Auch Sie und ich sind nicht verheiratet, wenn ich mich recht erinnere. Wir sind unseren Weg gegangen, und für keinen von uns waren Frau oder Kinder vorgesehen. Für Ettore vielleicht auch nicht. Das heißt aber nicht, dass wir nicht alle Geschöpfe Gottes sind. Das heißt nicht, dass nicht auch wir unsere Bestimmung haben.«
Ricciardi betrachtete lange den sanften Gesichtsausdruck des Priesters, während er seinem Gedankengang folgte. Schließlich sagte er:
»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Pater. Später ist noch die Trauerfeier, werden Sie sie halten?«
»Ja. Ich bin das, was dem Seelsorger der Familie am nächsten kommt, glaube ich.«
»Dann sehen wir uns dort. Ich denke, dass Brigadiere Maione und ich ebenfalls kommen werden.«
XXIV Es war zwar nicht so gelaufen wie in ihren rosigsten Erwartungen, aber insgesamt doch gar nicht so
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