Der Sommer des Commisario Ricciardi
erleuchteten Gesicht, das sie mit beiden Händen festhielt, einen langen Kuss auf den Mund drückte, der zärtlich erwidert wurde.
Es war nicht die Szene selbst, die Ricciardi beeindruckte, auch nicht, dass er die Person erkannt hatte, die dasObjekt einer so starken Leidenschaft war. Noch waren es die Uhrzeit oder die Musik oder das Lachen, die aus dem Haus drangen und von einer Feier kündeten, die noch sehr lange dauern würde.
Was ihn dort an seiner Straßenecke in so großes Erstaunen versetzte, war die Kleidung der Person, die der anderen den Kuss gegeben hatte.
XXIII Don Pierino Fava, der Pfarrer von San Ferdinando, verließ gerade den Beichtstuhl, als er hinten in der dunklen Kirche die Gestalt Ricciardis zu erkennen glaubte. Er hatte den Kommissar im vorigen Winter anlässlich der Ermittlungen zu dem aufsehenerregenden Mord an Arnaldo Vezzi, dem Startenor, kennengelernt. Die Gestalt löste sich aus dem Schatten in der Tiefe des Kirchenschiffs und kam ihm entgegen. Als er nahe genug war, erkannte Don Pierino, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte.
»Commissario Ricciardi, was für eine Überraschung! Ich freue mich, Sie hier zu sehen; wenn Sie wüssten, wie oft ich in letzter Zeit an Sie gedacht habe!«
Er lächelte, während er sich auf die Fußspitzen stellte und Ricciardi die Hände drückte, glücklich wie ein Kind, das ein Geschenk bekommen hat.
»Ich freue mich auch, ganz ehrlich«, antwortete der Kommissar. Das stimmte. Der Priester war ihm bei den Ermittlungen im Fall Vezzi sehr nützlich gewesen, und sie hatten zueinander eine Art Vertrauensverhältnis aufgebaut; für eine Freundschaft unterschieden sie sich in Wertvorstellungen und Lebenserfahrung leider zu sehr.
»Es tut mir leid, dass ich Sie nicht schon früher besucht habe«, sagte Ricciardi, als sie die Sakristei erreichten. »Der Alltag vereitelt alle guten Vorsätze, wie es so schön heißt. Wie geht es Ihnen? Schwärmen Sie immer noch fürs Theater?«
Don Pierino hatte nicht aufgehört zu lächeln.
»Ich bleibe meinen Leidenschaften stets treu. Da fällt mir gerade ein: Hatten Sie mir nicht einen gemeinsamen Opernbesuch versprochen? Bald beginnt die neue Saison.«
Ricciardi gestand:
»Sie haben recht, Pater. Und Sie werden sehen, dass ich mein Wort halte; versprochen ist versprochen. Haben Sie kurz Zeit für mich? Ich brauche ein paar Informationen von Ihnen.«
Der kleine Priester zog eine große Taschenuhr aus seinem Talar und betrachtete das Ziffernblatt.
»Ja. Mir bleibt etwa eine halbe Stunde bis zur Messe. Sie sind immer sehr früh auf den Beinen, eine schöne Tugend. Sprechen Sie nur.«
Ricciardi, der in der Nacht kein Auge zugetan hatte, war wachsbleich und hatte riesige Augenringe. Don Pierino hatte es wohl bemerkt, aber irgendetwas im Ausdruck des Kommissars ließ ihn nicht weiter nachfragen.
»Dann möchte ich Sie nicht länger als nötig aufhalten. Man sagte mir, dass Sie im Haus des Herzogs von Camparino die Messe lesen.«
Das geschmeidige, braungebrannte Gesicht Don Pierinos zog sich gramerfüllt zusammen.
»Ja, die arme Herzogin. Eine furchtbare Tragödie. Also kümmern Sie sich um den Fall. Damit hätte ich nicht gerechnet.«
Ricciardi war überrascht.
»Warum denn?«
Der Priester zuckte mit den Schultern.
»Es ist eine einflussreiche Familie. Und wie Sie wissen, stehen Sie nicht in dem Ruf, besonders diplomatisch zu sein.«
Der Kommissar schüttelte den Kopf.
»Ich hatte ja keine Ahnung, wie bekannt ich anscheinend bin; erst gestern sagte mir ein Reporter genau dasselbe, und heute Sie. Sie haben recht, ich bin nicht diplomatisch. Ich möchte die Wahrheit herausfinden: Und Sie wissen ja selbst sehr gut, dass die Wahrheit nicht diplomatisch ist.«
»In dem Umfeld, in dem ich mich bewege, brauchen die Leute vor allem moralische Unterstützung. Oft ist es ein Milieu, in dem man die Polizei kennt und fürchtet. Über Sie wird nicht schlecht gesprochen. Es heißt, Sie seien still und ein wenig geheimnisvoll. Ein paar abergläubische Menschen – ich lache ja darüber – meinen auch, dass Sie Unglück bringen und ein Freund des Teufels sind. Die armen Leute sagen allerdings, dass bei Ihnen nie ein Unschuldiger dran glauben muss. Ich helfe Ihnen gerne, wenn ich kann; was möchten Sie wissen?«
»Was Sie mir sagen dürfen, Pater. Wie steht es zum Beispiel um die Beziehung der Herrschaften zueinander? Was ist mit der Dienerschaft? Oder den Freunden der Herzogin?«
Don Pierino sah traurig
Weitere Kostenlose Bücher