Der Sommer des Commisario Ricciardi
Hilfe. Gar nichts verdient er. Und du liebst ihn noch – nach allem, was du ertragen musstest.
Das begreife ich nicht.
Ricciardi konnte nicht umhin, die zweideutige Antwort des Jungen zu bewundern. Ganz die Mutter, dachte er. Maione dagegen beobachtete Capece, seinen Gesichtsausdruck; die bewegliche Miene des Redakteurs zeigte widersprüchliche Gefühle: Bedauern, Schuld, Demütigung. Aber auch einen gewissen Stolz, die hartnäckige Verteidigung einer starken Leidenschaft, die ihren Gegenstandüberlebt hatte. Ein paar Mal hatte er den Mund geöffnet, wie um etwas zu sagen, dann aber innegehalten. Irgendwie hatte es den Anschein, als beherrschte die vertraulich auf seinem Oberschenkel ruhende Hand seiner Frau seinen Willen.
Der Kommissar nahm das Gespräch wieder auf.
»Capece, ich muss auf eine Frage zurückkommen, die ich Ihnen bereits bei unserem letzten Gespräch gestellt habe. Vorab weise ich Sie darauf hin, dass ich einen Durchsuchungsbefehl für Ihre Wohnung bei mir trage. Ich denke aber, Sie stimmen mit mir darin überein, dass es für alle Beteiligten besser wäre, wenn es nicht dazu kommen müsste. Eine Durchsuchung ist ein gewaltsames Eindringen in die Privatsphäre einer Familie; wir machen so etwas nicht gern und ich bin sicher, dass Sie es auch nicht gern über sich ergehen lassen möchten. Wir suchen nur eine einzige Sache, daher frage ich Sie: Gibt es Waffen in Ihrem Haus?«
Maione beobachtete Sofias Hand, die sich nicht bewegte. Capece schien aus den Tiefen einer Erinnerung aufzutauchen, sein Blick wurde klarer. Nach langem Zögern sagte er:
»Ich habe im Krieg gedient, als Offizier. Der Krieg ist scheußlich, nichts als Schmerz und Leid, aber ich war jung und glaubte daran, kämpfte für ein Vaterland, das nun als Legitimation für alle Arten von Übergriffen benutzt wird. Um nicht zu vergessen, wie überflüssig der Krieg ist, habe ich meine Pistole aufgehoben. Aber sie ist weggeschlossen, in einer Schreibtischschublade, nicht geladen und ohne Patronen. Weitere Waffen gibt es hier nicht.«
Ricciardi nickte.
»Gut. Schauen wir uns diese Reliquie an.«
Capece stand auf und ging voraus. Seine Frau folgte ihm. Sie war ruhig und lächelte, als ob sie ihren Gästen ein hübsches Bild ihrer Tochter zeigen sollte. Das Arbeitszimmer lag direkt hinter dem Wohnzimmer. Capece tastete am oberen Rand eines Bücherregals entlang, bis er einen Schlüssel zutage förderte; dann trat er an den Schreibtisch, wo er die lange mittlere Schublade direkt unter der Tischplatte öffnete. Er zog eine Metallschachtel ohne Schloss heraus und öffnete sie.
Sein Gesicht wurde bleich, die Augen waren vor Verwunderung weit aufgerissen.
»Sie ist nicht da! Die Pistole ist verschwunden!«
Ricciardi drehte sich zu Sofia um und las in ihrem Gesicht die gleiche Überraschung wie bei ihrem Mann. Falls die beiden schauspielerten – und anders konnte es nicht sein –, machten sie ihre Sache wirklich gut. Mann und Frau starrten sich an: Sie wirkten bestürzt. Capece sagte:
»Wer kann sie bloß genommen haben?«
Die Frau hatte eine Hand zum Mund geführt und schüttelte sacht den Kopf, als wollte sie das Offensichtliche nicht wahrhaben.
»Also … keine Ahnung. Wir haben sie seit Jahren nicht gesehen. Inzwischen hatten wir wohl vier oder fünf Hausangestellte hier. So etwas lässt sich doch verkaufen, nicht? Vielleicht ist sie gestohlen worden; wir hätten es nicht einmal bemerkt. Ich kann Ihnen gerne die Namen der Dienstmädchen nennen … Ich jedenfalls habe die Pistole nicht angerührt und auch mein Mann nicht! Und, wie mein Mann Ihnen bereits sagte, war sie nicht geladen. Sie werden doch nicht glauben … das ist völlig absurd!«
Maione und Ricciardi sahen sich an; dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit den Eheleuten Capece zu, die es jetzt eindeutig mit der Angst bekamen. Der Kommissar sagte:
»In Ordnung. Wir werden Sie nun vorerst allein lassen. Aber Sie müssen versuchen, sich zu erinnern, und die Pistole suchen. Bitte informieren Sie uns über alle Fortschritte bei Ihrer Suche.«
Capece deutete mit den Augen ein Ja an; er wurde von unendlich vielen Gedanken bestürmt, die allmählich Form annahmen. Seine Frau hatte alle Selbstsicherheit verloren und warf ihm immer wieder ängstliche Blicke zu. Das Verschwinden der Pistole schien sie an ihrer Strategie zweifeln zu lassen: Wahrscheinlich waren ihre Verteidigungsversuche zumindest voreilig gewesen.
Beim Hinausgehen drehte Ricciardi sich noch einmal um, als ob
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