Der Sommer des Commisario Ricciardi
was ich Ihnen jetzt sage: Gehen Sie freiwillig, das ist das Beste.«
Es herrschte nun eindeutig dicke Luft: Alle waren mucksmäuschenstill, man hörte nicht einmal jemanden atmen. Im Zimmer nebenan hatte der Mann mit dem Gewehr aufgehört zu singen und war von seinem Hocker aufgestanden. Nun näherte er sich mit der Waffe in der Hand drohend der Tür. Alle starrten Ricciardi an. Der wiederum hatte seinen Blick noch immer fest auf den Mann gerichtet, der ihn zuerst angesprochen hatte. Jetzt drehte er sich langsam zu seiner nächtlichen Bekanntschaft um und fixierte sie ausdruckslos, mit leerem, gleichgültigem Blick. Der Kerl vom Schlägertrupp wich unmerklich zurück und hob das Kinn, die Hände in die Hüften gestemmt: Damit ahmte er unbewusst die Person nach, die ihm seine Sicherheit verlieh.
»Danke für den Rat«, sagte Ricciardi. »Ich werde gehen, sobald ich die Informationen habe, die ich brauche.«
»Vielleicht haben wir uns missverstanden: Sie sollen sofort gehen, sonst werden wir Sie auf unsere Art begleiten. Sie müssen sich dann nicht einmal die Treppe hinunterbemühen.«
Der Mann unterstrich seine Drohung, indem er mit dem Kopf zum Fenster deutete. Man hörte ein einzelnes nervöses Lachen, das sogleich abbrach; das verächtliche Grinsen des Schlägers verblasste. Ricciardi tat, als ob er nichts gehört hätte.
»Ich muss mit Ettore Musso di Camparino sprechen.«
Sein Gegenüber trat einen Schritt zurück, als sei er geohrfeigt worden. Unter den Anwesenden erhob sich ein konfuses Raunen. Viele sahen sich erschrocken an.
Der Mann fasste sich wieder und trat einen Schritt nach vorn; seine Lippen zitterten und seine Augen waren vor Zorn weit aufgerissen. Er legte eine Hand auf Ricciardis Arm, der die Hände nicht aus den Taschen genommen hatte.
»Jetzt reicht’s! Ich sagte, Sie sollen gehen, und …«
Hinter der Menschentraube, die drohend einen Kreis um sie gebildet hatte, erklang eine ruhige Stimme:
»Schon gut, Mastrogiacomo. Das reicht jetzt.«
Der Kreis öffnete sich, als habe ein Dompteur mit der Peitsche geknallt. In einem Türrahmen, durch den ein mit Papieren übersäter Schreibtisch zu sehen war, stand ein schmaler, herausgeputzter Mann von etwa vierzig Jahren. Der Kerl vom Schlägertrupp nahm die Hand von Ricciardis Arm, als hätte er sich daran verbrannt, und sah nun verwirrt aus.
»Jawohl. Entschuldigen Sie, Dottore, aber ich dachte …«
Der Mann im Türrahmen sah Ricciardi neugierig an. Er machte eine vage Handbewegung in Richtung Mastrogiacomo, der sogleich verstummte. Dann sagte er, ohne den Blick vom Kommissar zu wenden:
»Bring bitte zwei Tassen Kaffee in mein Büro. Bitte, Commissario, treten Sie ein.«
Ricciardi folgte ihm in sein Zimmer.
Die Rose mit ihrer großen Blüte ist wunderschön: ein Solitär, der sich selten zum Paar verbindet. Sie braucht viel Pflege. Ich muss darauf achten, dass die Feuchtigkeit stets konstant bleibt, die Blume ist hochempfindlich: Wenn es zu trocken ist, wird sie nicht blühen. Es gibt nichts Traurigeres, als Blätter und Blütenblätter zusammengerollt am Boden zu finden, von der Hitze verbrannt.
Blumen sind sinnlich: Samtweich wie Haut, leuchten sie in schillernden Farben. Man muss sie pflegen, wie man einen geliebten Menschen pflegen würde: hingebungsvoll, leidenschaftlich. Der stille Zauber der Liebe muss bewahrt bleiben, wenn man die Blumen mit Wasser besprengt und zuschaut, während die Tropfen sich in ihren Blütenblättern sammeln wie kleine Schweißperlen auf den Lippen.
Heute Nacht habe ich geträumt, eingesperrt zu sein. Ich träumte, dass die Blüten ohne mich herabfielen und alle Pflanzen starben, ihren Platz wildem und wucherndem Unkraut überließen. Wenn sie mich wegbringen sollten, würde sich niemand mehr um euch kümmern, meine empfindsamen Rosen; auch nicht um die Begonien, den Oleander. Es reicht schon zu sehen, wie kalt und lieblos die Hortensien unten im Hof versorgt werden, trotz meiner ständigen Anweisungen an Sciarra, den dumpfen Pförtner mit der Riesennase und seiner Horde von Kindern. Unnützes Volk.
Dem Haus würde alle Pflege, jeder Rest von Ehre verloren gehen, wenn man mich wegbringen sollte. Auch du, Mama, würdest im Jenseits darunter leiden, da bin ich sicher. Und doch würde ich kein Wort sagen. Mich nicht verteidigen.
Denn die Liebe, Mama, steht an erster Stelle. Wenn ich jemanden verteidigen müsste, würde ich meine Liebe verteidigen.
Meine erste, große Liebe.
Der Mann ging Ricciardi
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