Der Sommer des Commisario Ricciardi
Dickköpfigkeit seines Vorgesetzten, unbedingt zu Fuß gehen zu wollen, die braune Jacke, die trotz seiner Diät nur mit Mühe zuging,und der Gedanke daran, wie seine Frau bei diesem verflixten Gemüsehändler einkaufen ging. In seinem Kopf formten sich Mordpläne ebenso wie die Gewissheit, demnächst aufgrund des Hungers oder der Hitze, oder wegen beidem, ohnmächtig zu werden. Er fühlte etwas wie eine Kontraktion in der Magengegend und presste sich beim Gehen die Hand aufs Brustbein. Da haben wir’s, dachte er, ein beginnender Herzinfarkt.
Doch er irrte sich.
Ricciardi dachte nach. Auf der einen Seite waren da Capece und die Pistole, auf der anderen Ettore und sein Schweigen. Hinzu kam die ebenfalls in Betracht zu ziehende Möglichkeit eines versuchten Raubüberfalls oder eines bislang unbekannten Dritten. Wer zum Beispiel hatte die Herzogin an jenem Abend nach Hause begleitet? Man hatte sie das Theater allein verlassen sehen, doch es war nicht ausgeschlossen, dass sie danach noch jemanden getroffen hatte. Im Durcheinander des Straßenfestes wäre ein fremdes Gesicht wahrscheinlich kaum aufgefallen.
Hinter diesen Überlegungen blitzten hin und wieder die Gesichter von Livia – ihre weit aufgerissenen Augen beim Anblick der vier armseligen Narren, der Urheber des nächtlichen Angriffs – und Enrica – ihr tränengetrübter Blick im Gambrinus – in seinen Gedanken auf. Sofort kam ihm auch das charmante Lächeln ihres Begleiters wieder in den Sinn und er spürte einen Stich im Magen. Vielleicht habe ich Hunger, dachte er.
Doch er irrte sich.
XXXII Die beiden erkannten das Haus schon von Weitem, da Capece rauchend und nervös davor auf und ab spazierte. Als er sie sah, ging er ihnen entgegen.
»Ricciardi, Brigadiere. Ich muss mich bei Ihnen bedanken; nicht jeder wäre an Ihrer Stelle so freundlich gewesen, mich zu benachrichtigen, damit ich herkommen kann. Ich weiß das sehr zu schätzen. Meine Frau und meine Kinder haben mit dieser Geschichte nichts zu tun. Sie haben wegen mir schon genug gelitten. Und dann noch die Demütigung, die Polizei im Haus zu haben … nichts für ungut, aber Sie verstehen sicher, dass es nicht leicht ist.«
Ricciardi nickte und bewegte kurz die Hand, wie um eine Fliege zu vertreiben.
»Nicht der Rede wert. Wenn möglich, versuchen wir stets, bestimmte Situationen zu vermeiden, vor allem wenn Unschuldige beteiligt sind. Wollen wir reingehen?«
Capece ging vor und führte sie durch einen Eingangsbereich, von dem aus eine breite Treppe nach oben führte. Das Haus musste schon bessere Zeiten gesehen haben, hatte sich aber eine gewisse Vornehmheit bewahrt. Die Familie des Redakteurs lebte im zweiten Stock. An der Wohnungstür angelangt, drückte Capece auf die Klingel. Ricciardi und Maione wechselten einen raschen Blick: Beide hatten intuitiv erkannt, dass er auf sie gewartet hatte, um sein eigenes Heim zu betreten.
Die Tür wurde von einem etwa zehnjährigen Mädchen geöffnet, das große Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte; es sah ihn überrascht und glücklich an und fiel ihm mit einem Schrei um den Hals. Capece war verlegen, doch auch sichtlich gerührt, und drückte die Kleine mit glänzenden Augen an sich. Maione und Ricciardi hielten sich im Hintergrund, um diesen wunderbar vertraulichen Augenblick nicht zu zerstören. Der Brigadiere konnte nicht umhin sich zu fragen, wie lange Vater und Tochter sich wohl nicht gesehen hatten.
Ohne das Kind abzusetzen, das ihn immer noch fest umklammerte, bedeutete Capece den beiden Polizisten schließlich einzutreten.
»Bitte sehr, die Herren, fühlen Sie sich ganz wie zu Hause. Giogiò, Liebes, die beiden Herren sind … Papas Freunde. Sei jetzt artig: Steig ab und stell dich vor.«
Das Mädchen, das nun wieder mit den Füßen auf dem Boden stand, strich sich den Rock mit einer sehr damenhaften Geste glatt und machte einen tadellosen Knicks.
»Guten Tag, meine Herren. Ich bin Giovanna Capece und elf Jahre alt.«
Ricciardi deutete ein Lächeln an. Maione nahm den Hut ab und sagte mit einer Verbeugung:
»Guten Tag auch Ihnen, Fräulein Giovanna Capece. Ich bin Raffaele und das da ist Herr Ricciardi.«
Das Mädchen schien zufrieden. Es lächelte und sagte:
»Ich rufe meine Mama.«
Die allerdings stand bereits hinter ihr im Türrahmen. Eine schöne Frau, vielleicht ein wenig unauffällig, dachte Ricciardi. Capeces mittelgroße, dunkel gekleidete Ehefrau zog auf der Straße sicherlich keine Blicke auf sich, obwohl keine
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