Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
Vom Netzwerk:
vor dem Zwischenfall mit den vier Angreifern. Es war schön gewesen, das konnte er nicht leugnen. Für ein paar Stunden hatte er sich von der Last der Einsamkeit befreit gefühlt, die seine Gabe ihm auferlegte. Livia war schön, geistreich, intelligent; er hatte sich wohlgefühlt in ihrer Gesellschaft und auch den Neid und die Bewunderung der anderen Restaurantbesucher genossen. Doch war er nicht in sie verliebt – das wurde ihm klar, wenn er seine Empfindungen ihr gegenüber mit den verzehrenden, verzweifelten Gefühlen für Enrica verglich. Vielleicht war das ja das Geheimnis, dachte er: Damit es einem gut ging, war es besser, nicht allzu involviert zu sein.
    Über diesen Gedanken hatte er sein Ziel erreicht. Als er das Eingangsportal erblickte, fiel ihm wieder der leidenschaftliche Kuss ein, dessen Zeuge er geworden war.
     
    Mit zusammengekniffenen Lippen knöpfte Rosa sich ihr Kleid vor dem Spiegel bis zum Hals zu. Um diese Zeit ging sie eigentlich nie aus. Bei der Hitze war es im Hausauch sicher angenehmer als draußen, doch dieses eine Mal spürte sie, dass sie etwas unternehmen musste.
    Sie konnte es nicht länger ertragen, Ricciardi leiden zu sehen. Zwar sah er nie fröhlich aus, war still und scheu, und sie hatte ihn seit seiner Kindheit nicht mehr lachen gehört, doch wusste sie jederzeit oder glaubte zumindest zu wissen, wie es ihm ging. Seit ein paar Tagen quälte sich ihr Junge ganz fürchterlich. Er aß nicht, verließ mitten in der Nacht das Haus und kam erst vor Sonnenaufgang zurück, hörte abends stundenlang im Dunkeln Radio – und all das hatte begonnen, als er atemlos in ihr Zimmer kam, um die Fenster von gegenüber zu beobachten.
    Nachdem sie ihren Hut mit zwei Nadeln festgesteckt hatte, stellte Rosa sich an das Fensterchen im Abstellraum am Ende des Flurs. Von dort aus sah man einen kleinen Ausschnitt von Enricas Schlafzimmer. Man erkannte das Kopfende des Bettes, über dem ein Holzkreuz an der Wand hing, den Nachttisch mit einem Glas Wasser und zwei Büchern und das Kissen, auf dem, mit dem Gesicht nach unten, der Kopf der jungen Frau ruhte. Ihre zuckenden Schultern, die aus fünf Metern Entfernung deutlich zu erkennen waren, bestätigten Rosa, dass Enrica Colombo weinte.
    Zufrieden nickte die Kinderfrau und machte sich auf den Weg dorthin, wohin alle Frauen des Viertels gingen, wenn sie Informationen brauchten: zur Friseurin.

    XXXIV    Das Haustor stand offen und der Pförtner, der ihm von dem Parteisitz im obersten Stockwerk des Hauses berichtet hatte, war nicht da. Ricciardi nahm an, dass der Zutritt also wohl frei sein müsse.
    Auf den vier Treppen, die zum letzten Stock führten, herrschte denn auch ein reger Verkehr: Männer gingen zu zweit oder in kleinen Gruppen hoch und runter, schwatzten und lachten. Ricciardi nahm den üblichen pathetischen Enthusiasmus wahr, die leicht gezwungene geräuschvolle Heiterkeit von Zusammenkünften, an denen hauptsächlich Männer teilnahmen. Vom Treppenabsatz ging eine Tür ab, deren beide Flügel offen standen. Sie führte in ein großes Vorzimmer voller Menschen in unterschiedlichster Kleidung: von hellen, eleganten Anzügen mit Fliege bis hin zu kalkverschmutzten Arbeitskitteln. Durch einen Türspalt war ein Mann zu erkennen, der ein Gewehr polierte und dabei ein Liebeslied sang.
    Zunächst nahm niemand Notiz von Ricciardi. Er musste erst einmal um eine Vierergruppe herumgehen, die laut über einen unanständigen Witz lachte; sobald er allerdings über die Türschwelle getreten war, näherte sich ihm mit grimmiger Miene ein Mann, der ihn grob fragte, wer er sei und was er wolle. Sofort trat Stille ein, obwohl der Mann nicht laut gesprochen hatte.
    Ricciardi spürte deutlich die Welle der Feindseligkeit, die ihm von allen Seiten entgegenschlug, wandte den Blick aber nicht vom Gesicht seines Gesprächspartners; er fixierte ihn solange, bis sein Gegenüber wegschaute. Irgendwo vom Treppenabsatz her kam ein nervöses Husten. Leise und bestimmt sagte er:
    »Ich bin Kommissar Ricciardi von der Polizei. Ich nehme an, dass Sie das bereits wissen.«
    Aus einer Gruppe im hinteren Teil des Raumes löste sich ein Mann, den Ricciardi an seiner Kleidung wiedererkannte: Er war der Anführer der vier Angreifer in der letzten Nacht gewesen.
    »Und? Wer auch immer Sie sind, Sie sind nicht willkommen und haben hier nichts zu suchen. Nur weil es einmal gut für Sie ausgegangen ist, heißt das nicht, dass Sie immer ungeschoren davonkommen werden. Hören Sie gut zu,

Weitere Kostenlose Bücher