Der Sommer des Commisario Ricciardi
Wir haben geschlafen. Warum, wo waren Sie denn?«
Ricciardi und Maione wechselten einen überraschten Blick. Capece starrte, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern, noch immer seine Frau an, die ihm inzwischen eine Hand aufs Bein gelegt hatte, als ob sie ihn damit festhalten wollte. Als ob sie fürchtete, er könne jeden Moment einfach wegfliegen.
Der Kommissar sprach im selben Ton weiter.
»Und doch sagt Ihr Mann etwas anderes, Signora. Erhat ausgesagt, die ganze Nacht auf den Beinen gewesen und durch die Wirtshäuser beim Hafen gezogen zu sein. Sind Sie sich dessen, was Sie gerade gesagt haben, sicher?«
Sofia runzelte gereizt die Stirn.
»Was fällt Ihnen ein, an meinem Wort zu zweifeln? Mein Mann muss sich geirrt haben. Ich versichere Ihnen, dass wir in der besagten Nacht alle vier zu Hause waren und niemand ausgegangen ist. Der Schlüssel liegt nachts unter meinem Kissen und ich hätte gemerkt, wenn jemand ihn weggenommen hätte, glauben Sie nicht? Ich bestätige Ihnen meine Aussage Wort für Wort, es liegt an Ihnen, das Gegenteil zu beweisen.«
Damit, dachte Maione, hat die Frau recht. Es liegt an uns, das Gegenteil zu beweisen.
Als Ricciardi gerade zu einer Antwort ansetzte, kam Andrea, der Erstgeborene, herein: ein hochgewachsener Junge mit derselben Augen- und Haarfarbe wie seine Mutter. Er wirkte älter als nur sechzehn Jahre. Die schweißnassen Haare klebten ihm an der Stirn und unter seinem Arm klemmten ein paar von einem Riemen zusammengehaltene Bücher. Die Miene des jungen Mannes bot ein wahres Kaleidoskop an Gefühlsregungen: Der zunächst fröhliche Ausdruck ging in Beunruhigung über angesichts der Fremden in ihrer Wohnung, dann in Kälte und Groll beim Anblick des Vaters. Capece seinerseits sah den Sohn zärtlich an und wollte aufstehen, um ihn zu begrüßen, doch Sofia verstärkte den Druck auf sein Bein, damit er sitzenblieb.
»Das ist Andrea, Commissario. Er kommt, wie gesagt, vom Unterricht. Andrea, Kommissar Ricciardi und Brigadiere Maione sind hier, um ein paar Fragen zu stellen. Ausirgendeinem Grund sind sie davon überzeugt, dein Vater sei Samstagnacht ausgegangen statt hier bei uns zu schlafen. Sagst du ihnen bitte, dass das absurd ist?«
Maione bewunderte die Frau für ihre Scharfsinnigkeit und schnelle Reaktion: Sie hatte ihren Sohn über die Lage informiert und ihm auch gleich die richtige Antwort in den Mund gelegt. Ricciardi warf nur einen flüchtigen Blick auf den Jungen und konzentrierte sich dann wieder auf Sofia.
Andrea dagegen sah seinen Vater mit unverhohlener Verachtung an. Die Stimmung im Zimmer war deutlich angespannt.
»Ich habe geschlafen, Mama. Wie du weißt, habe ich einen sehr festen Schlaf; ich weiß dann nicht, wer zu Hause ist und wer nicht. Wenn du es sagst, wird es so gewesen sein. Ich denke, man merkt, ob man allein im Bett liegt oder nicht. Ist sonst noch etwas? Wenn nicht, gehe ich mich waschen.«
Ricciardi wusste, dass die Aussage eines Minderjährigen keinerlei Gewicht hatte; er hatte jedoch den Eindruck, dass die offensichtliche Feindseligkeit des Sohnes gegenüber dem Vater das schwache Glied in der Kette war, die die Capeces um ihr angebliches Familienglück zu spannen versuchten.
»Wie lange hast du deinen Vater nicht gesehen?«
Die Frage platzte wie ein Knallfrosch in die Stille. Der Junge, der bereits zur Tür hinaus war, blieb stehen und drehte sich langsam zu Ricciardi um. Die Mutter wollte etwas sagen, doch der Kommissar gebot ihr Einhalt.
»Ich habe Ferien, Commissario, und wache spät auf. Als ich heute Morgen aufgestanden bin, war mein Vater schonweg. Und als ich gestern schlafen ging, war er noch nicht zurück. Wissen Sie, er arbeitet bei der Zeitung; abends wird es meistens spät bei ihm. Sie gestatten.«
Damit verließ er das Zimmer.
XXXIII Warum hast du das getan, Mama? Wir hatten die Chance, ihn loszuwerden, ihm alles heimzuzahlen. Uns endlich freizumachen von seinen Demütigungen, dem Elend, das er uns gebracht hat, obwohl wir einmal seine Familie waren.
Niemand hätte mehr heimlich über uns tratschen können; Schluss mit der Schande, dem Gerede. Wir hätten den Kopf endlich wieder hoch tragen können, weil alle gewusst hätten, dass wir die Opfer sind.
Stattdessen wolltest du ihn retten. Ich begreife nicht warum. Es wäre nur gerecht gewesen, wenn er endlich seine verdiente Strafe bekommen hätte: genug Zeit, um darüber nachzudenken, was er getan hat. Das Verbrechen, das er begangen hat.
Er verdient keine
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