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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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– uns – gewissermaßen als … Kollegen. Wir haben bloß weniger Glück als Sie. Wir müssen im Verborgenen wirken.«
    Ricciardi schnaubte.
    »Diese Parallele scheint mir doch etwas gewagt, Pivani. Wie soll ich Sie eigentlich anreden? Haben Sie ein bestimmtes Amt inne, einen Dienstgrad?«
    Der Mann lächelte freundlich.
    »Meine Stellung und mein Dienstgrad wären Ihnen unverständlich. Pivani reicht völlig aus. Meine Aufgabe besteht darin, alles über jeden zu wissen: Dafür wurde ich hergeschickt. Ich bin eine Art … Inspektor, nennen wir es so. Der Faschismus war in Neapel in letzter Zeit nicht in guten Händen. Sie erinnern sich sicher an den Unfall, bei dem Padovani ums Leben kam, ein Parteimitglied der ersten Stunde; er war ’22 beim Marsch auf Rom an der Seite des Duce. Manche Werte, bestimmte Aspekte der Partei haben sich inzwischen geändert. Ich bin hier, um zu überprüfen, ob diese … Änderungen angenommen wurden.«
    Ricciardi erinnerte sich gut an die Tragödie, die sich fünf Jahre zuvor in der Via Generale Orsini ereignet hatte. Er war als einer der ersten vor Ort gewesen: Der Balkon, von dem aus der Parteifunktionär die Menge grüßte, die seinen Namenstag feierte, war eingestürzt; neun Menschen kamen dadurch zu Tode, etwa dreißig weitere wurden schwer verletzt. Viele Aspekte des von Pivani so bezeichneten »Unfalls« waren im Dunkeln geblieben. Ricciardi erinnerte sich, dass es in der Stadt sofort geheißenhatte, Padovani sei dem Duce zu unbequem geworden, denn es war ein sehr merkwürdiger Unfall gewesen, der der Partei äußerst gelegen kam. Pivani sprach noch immer:
    »Übereifer war schon immer ein Problem. Auch dieser ganze Personenkult, vom Duce einmal abgesehen, wohlgemerkt. Sie verstehen wohl, dass die Basis aus der Masse besteht, dem Pöbel, der unfähig ist, selbst zu denken. So kommt es zur Gewalt, wenn nämlich eine Handvoll unnützer Hohlköpfe einem Vorgesetzten gefallen wollen. Man muss sie führen, ihnen täglich neu den Weg weisen. Ein weiteres Problem sind natürlich diejenigen, die im Untergrund intrigieren. Und genau an dieser Stelle treten wir in Erscheinung.«
    Wir von der OVRA, dachte Ricciardi. Der legendären Geheimpolizei, deren Existenz das Regime beharrlich abstritt. All der Schrecken, die Gewalt, für die dieser niemals offen genannte Name stand, sollte also in diesem harmlosen kleinen Mann vereinigt sein.
    »Was Sie tun, geht mich nichts an. Auch nicht, was Sie herausfinden, wenn Sie im Schlamm wühlen. Ich möchte nur wissen, was Ettore Musso di Camparino neulich nachts hier zu suchen hatte. Wo er hingeht, wenn er das Haus verlässt, und was er dort tut. Meine Aufgabe ist es herauszufinden, wer die Herzogin, seine Stiefmutter, getötet hat, die ohne jedes Mitleid ermordet wurde. Ich will wissen, ob er es war.«
    In der Stille, die nun folgte, hörte man es an der Tür klopfen; Pivani rief laut »Herein«. Daraufhin kam Mastrogiacomo mit einem Teller ins Zimmer, auf dem zwei dampfende Tässchen mit Kaffee standen, und stellte ihnauf den Schreibtisch. Als er sich umdrehen und wieder gehen wollte, herrschte Pivani, der Ricciardi immer noch wie hypnotisiert anstarrte, ihn an:
    »Mastrogiacomo, wenn der Kommissar uns später verlässt, sorgst du dafür, dass er unbehelligt bleibt. Dann kommst du zu mir und bringst deine drei Kameraden mit, du weißt schon wen. Wir müssen über eine Reise sprechen, die ihr machen sollt. Ihr werdet umgehend aufbrechen. Eine lange Reise: Packt schon mal eure Koffer.«
    Der Mann seufzte tief, und als er gerade etwas entgegnen wollte, wandte Pivani ihm sein Gesicht zu. Das genügte. Er ging zur Tür, rückwärts und mit gesenktem Kopf; auf der Türschwelle richtete er sich auf und schlug die Hacken zusammen, wie es der Römische Gruß verlangte, dann verließ er den Raum und schloss die Tür.

    XXXV    Nachdem Andrea Capece seiner Meinung nach lange genug gewartet hatte, betrat er das Zimmer, das die beiden Polizisten vor einiger Zeit verlassen hatten. Seine Mutter saß auf dem Sofa, die Hände im Schoß, und schaute durch die offene Tür zum Balkon, auf dem sein Vater am Geländer stand und rauchte. Er hatte das unangenehme Gefühl, diese Szene schon einmal erlebt zu haben, nicht ganz zu Unrecht, da er als Kind viele Stunden damit verbracht hatte, dem zunehmenden Schweigen seiner Eltern zu lauschen.
    Diesmal jedoch empfand er das Ganze als abstoßend: sowohl seinen Vater, der sich wieder einmal undankbar und gleichgültig

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