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Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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schlürfend und geräuschvoll einsog. Sie hätte ihn dafür erwürgen können.
    Was die anderen wohl gesagt hätten, wenn sie wüssten, dass Enrica, dieses zarte, zerbrechliche und in sich gekehrte Geschöpf, dessen Sanftheit sie so mochten, Mordgedanken hegte? Sie musste unwillkürlich lächeln. Der ahnungslose Sebastiano unterbrach sogleich seine Kaffeezeremonie, um ihr einen zärtlichen Blick zu schenken. Eingebildeter Esel, dachte sie, immer noch lächelnd. Um sich von dem Schlürfen abzulenken, das nun unvermeidlich folgen würde, dachte sie an ihre Begegnung mit der Friseurin am selben Nachmittag und all die Fragen, die diese ihr zu ihrer angeblichen Verlobung gestellt hatte, welche Enrica entschieden abstritt. Die Frau frisierte auch Ricciardis Haushälterin, überlegte sie. Wie schön es doch wäre, wenn ihre Neugier auf ihn zurückzuführen wäre: Es hätte bedeutet, dass er sich noch für sie interessierte, dass diese verflixte Norditalienerin vielleicht sogar nur eine Freundin war, dass es noch Hoffnung gab.
    Sie war sich sicher, dass Luigi Alfredo, wenn er Kaffee trank, keinerlei Geräusche machte. Und dass sein kleiner Finger dabei unten blieb, wie es sich für einen Mann gehörte.
     
    Lucia ging Raffaele entgegen, sobald sie hörte, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte. Die Kinder hatte sie ins Bett geschickt, als klar war, dass es bei ihrem Mann später werden würde, und ihm das Abendessen, eine Gemüsesuppe, warmgehalten. Er ließ sich auf den Stuhl fallen, schweißgebadet durch den Anstieg auf dem Heimweg vom Präsidium und das Treppensteigen bis zum obersten Stock. Besorgt erforschte sie seinen Gesichtsausdruck: Er erschien ihr angespannt, nervös. Sie fragte sich, an was er wohl dachte. Oder an wen.
    Ihr Mann dagegen betrachtete die Suppenschüssel undrührte mit dem Löffel zwischen dem Gemüse herum. Nach einer Weile fragte er sie, wie ihr Tag gewesen sei. Sie antwortete, sie sei einkaufen gewesen und habe den Nachmittag damit verbracht, das Grünzeug zu putzen, das sie gekocht hatte. Und übrigens: Schöne Grüße von Ciruzzo, dem Gemüsehändler.
    Er sah auf, als hätte er einen Schlag bekommen, ließ den Löffel in die Suppe fallen, erhob sich und sagte:
    »Die Suppe ist widerlich. Vielleicht sollt’ ich’s machen wie der Commissario und öfter auswärts essen. Mir ist der Appetit vergangen, ich geh schlafen. Gute Nacht!«
    Verblüfft und gekränkt sah Lucia ihm nach, während er das Zimmer verließ, und fragte sich, was sie wohl falsch gemacht hatte.
     
    Ricciardi hatte fast nichts gegessen. Etwa zehn Minuten lang hatte er mit der Pasta auf seinem Teller herumgespielt und war ganz offensichtlich in Gedanken weit weg. Rosa hatte wie üblich in der Küchentür gestanden und ihn die ganze Zeit über beobachtet.
    Als er mit einem verstohlenen Blick auf sie in Erwartung ihres üblichen Wutausbruchs aufstand, räumte sie zu seiner Überraschung bloß stumm den Tisch ab, ohne auch nur einen einzigen spitzen Kommentar über seine Rücksichtslosigkeit gegenüber einer alten Frau, die den ganzen Tag schuftete, nur um ihm eine anständige Mahlzeit zu servieren.
    Eigentlich war Rosa weit weniger besorgt als in den Tagen zuvor. Die Friseurin war wie gewünscht zu ihr gekommen, um sich die zweite Hälfte des versprochenen Trinkgeldes zu verdienen, und hatte gute, vielmehr hervorragende Nachrichten gebracht. Fräulein Colombo hatte sich nämlich nicht verlobt und, was noch besser war, beabsichtigte auch nicht, es noch zu tun. Ihre Eltern, denen das Alter des Mädchens Kummer bereitete, drängten Enrica allerdings, zumindest ein freundschaftliches Verhältnis zum Sohn des benachbarten Ladenbesitzers zu pflegen. Sie hofften, dass sich daraus früher oder später noch etwas ergeben würde.
    Die Gefahr war also noch nicht gebannt, dachte Rosa beim Spülen, doch zumindest bestand Hoffnung.
    Ricciardi hatte sich in sein Zimmer zurückgezogen und beschlossen, nicht einmal aus Versehen zum Fenster des Nachbarhauses hinüberzuschauen. Er wollte nicht schon wieder enttäuscht sein, wenn er die verschlossenen Fensterläden sah. Natürlich nutzte der Vorsatz nichts, und so stand er im Dunkeln und beobachtete den winzigen Ausschnitt vom Wohnzimmer der Familie Colombo, den er von seinem Fenster aus erkennen konnte. Er sah den berüchtigten Jüngling – der inzwischen schon zum Inventar zu gehören schien – auf dem Sofa sitzen und Kaffee trinken; wütend fragte er sich, ob der Kerl auch irgendwann einmal nach

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