Der Sommer des Commisario Ricciardi
Ettore seine Stiefmutter zutiefst gehasst habe, doch ein Gewaltakt wie dieser liege nicht in seiner Natur. Er sei ein Literat, sanft und feinfühlig, liebe die Pflanzen und besitze keine Waffen. Achilles Beschreibung sowie das Alibi, das er selbst lieferte, entlasteten Musso und ließen viele Punkte des Mordes an der Herzogin weiterhin im Dunkeln.
»Ich habe verstanden, Pivani. Und mir sind die möglichen Folgen Ihrer Geschichte durchaus bewusst, sowohl die öffentlichen als auch die privaten. Ich muss Sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass Sie, falls wir keinen eindeutig Schuldigen finden sollten, möglicherweise als Zeuge vorgeladen werden, um vor Gericht zu wiederholen, was Sie mir gesagt haben. Andernfalls wird es für jedermann ein Leichtes sein, ihm die Sache anzuhängen – vor allem nach Mussos Auftritt bei der Beerdigung. Ist Ihnen das klar?«
Pivani, der weiter ins Leere starrte, lächelte traurig.
»Was würden Sie an meiner Stelle tun, Ricciardi? Würden Sie ruhig zusehen, wie er ins Gefängnis geht und dieSchmach ertragen muss, seinen altehrwürdigen Namen mit Dreck beworfen zu sehen wie der erstbeste miese kleine Verbrecher? Nur um mich zu retten? Nein, ich würde aussagen. Vielleicht wäre es sogar eine Befreiung nach all den schlaflosen Nächten, nach all der Angst, dass die Geschichte herauskommen und unsere armseligen Leben zerstören könnte. Sie haben unser Schicksal in der Hand, Commissario. Unsere einzige Chance besteht darin, dass Sie den Schuldigen finden.«
Ricciardi erhob sich von seinem Stuhl.
»Was nicht einfach sein wird, um die Wahrheit zu sagen. Die Herzogin verkehrte in der besten Gesellschaft. Man setzt mich gehörig unter Druck, ich muss mich beeilen; andernfalls wird man mir den Fall wegnehmen und ich werde gezwungen sein, meinem Nachfolger alles mitzuteilen, was ich herausgefunden habe.«
Pivani hatte eine Brille aufgesetzt und öffnete nun eine Akte, die auf seinem Schreibtisch lag.
»Ich darf Ihnen keine vertraulichen Informationen geben, zumindest nichts, was Sie frei verwenden können. Wie Sie wissen, existiert meine Organisation offiziell nicht. Wir sind ein – wie nennen Sie das doch gleich? – ein öffentliches Geheimnis. Trotzdem kann ich Ihnen etwas sagen, das für Sie nützlich sein könnte. Zu den Leuten, die wir überwachen, gehört Mario Capece, der Redakteur und Liebhaber der Herzogin. Er ist nicht gefährlich, lässt aber keine Gelegenheit aus, um überall herauszuposaunen, das Regime habe der Presse einen Maulkorb verpasst.«
Ricciardi nickte.
»Ja, das sagte er uns auch. Er scheint mir allerdings kein offener Regimekritiker zu sein. Ich denke, er trauert einfach der Vergangenheit nach.«
Pivani lächelte. Er sah Ricciardi über seine Brille hinweg an.
»Sie versuchen immer, die Leute in Schutz zu nehmen, stimmt’s, Ricciardi? Gewiss sind auch Sie viel netter, als Sie scheinen wollen. Ich weiß, dass Capece kein Aufrührer ist. Aber bei uns sind ein paar Anzeigen eingegangen und wir mussten ihn unter leichte Aufsicht stellen. Er wird nicht beschattet, daher kann ich Ihnen nicht sagen, ob er in der Nacht des Verbrechens im Hause Musso di Camparino war oder nicht. In der Zeitungsredaktion war er jedenfalls nicht, wir haben dort … nun, wir wissen es eben. Was ich Ihnen allerdings sagen kann, und was für Sie nützlich sein könnte: Capeces Sohn Andrea, ein Junge von sechzehn Jahren, hat etwas sehr Merkwürdiges getan. Ich lese Ihnen die Stelle vor: ›Der bereits genannte sechzehnjährige Andrea Capece verließ am Dienstag, dem fünfundzwanzigsten August, spät abends das Haus mit einem in Zeitungspapier eingewickelten Gegenstand. Er ging die Gasse neben dem Haus entlang und verschwand im Kellergeschoss des Hauses mit der Hausnummer Hundertvier, aus dem er nach sechs Minuten wieder herauskam, um zur Wohnung zurückzukehren.‹ Da der Vater die überwachte Person ist und wir ihn ungern warnen wollten, haben wir beschlossen, von einer gründlicheren Kontrolle abzusehen. Wir haben also nicht nachgesehen, woraus dieses Päckchen bestand. An Ihrer Stelle würde ich den Jungen allerdings im Auge behalten. Auch ein Kind kann schließlich eine Schusswaffe abfeuern.«
Ricciardi stand auf, die Unterredung war zu Ende. Er verabschiedete sich mit einem Kopfnicken und ging zur Tür. Als er schon die Hand auf die Klinke gelegt hatte, sagte Pivani:
»Eine Sache noch, Ricciardi. Ich habe hier heute Abend ein Selbstgespräch geführt, laut nachgedacht, nicht
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