Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer des Commisario Ricciardi

Der Sommer des Commisario Ricciardi

Titel: Der Sommer des Commisario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
Vom Netzwerk:
Ich war noch nicht lange in der Stadt, der Parteichef wollte mir gleich das gesellschaftliche Umfeld zeigen, die bekanntesten Leute. Ich bewege mich nicht gerne in der Öffentlichkeit, in meiner Position ist das nicht vorteilhaft. Aber ich ging trotzdem hin. Man stellte uns vor, Ettore und Achille, Hektor und Achilles, wir mussten lachen. Er sagte: Wir werden also kaum Freunde werden. Nun, von wegen.
    Die Partei duldet keine Homosexuellen. In ihren Augen sind wir schlimmer als Kriminelle, eine Missbildung der Natur. Mir war schon immer klar, dass ich so bin. Aber ich habe es nie offen gezeigt. Sogar verheiratet bin ich, mit einer Frau aus meinem Dorf, die mein Geheimnis nie verraten würde. Sie würde Geld und Rang damit verlieren – die Leute hungern auch bei uns, wissen Sie. Es herrscht große Armut. Immer noch starten von Genua aus die Schiffe nach Amerika. In der Partei braucht man eine Frau, um Karriere zu machen. Und Kinder – nun, wenn Gott einem keine beschert, ist daran nichts zu ändern. Ich hatte nie … ich habe nie irgendetwas in dieser Richtung unternommen. Damals, als ich ein Schüler im Internat war, gab es da einen älteren Jungen. Er wollte mir wehtun, und zeigte mir stattdessen, wer ich bin. Ich habe es für mich behalten. Bis ich Ettore begegnet bin.
    Wir sagten natürlich nichts. Aber glauben Sie mir, Commissario, wir wussten in dem Augenblick Bescheid, als unsere Blicke sich trafen. Wenn Sie wüssten, wie oft wir uns später an diesen Moment erinnert haben; es wird immer der wichtigste meines Lebens bleiben. Wie oft habe ich, haben wir versucht, dieses verflixte Gefühl zu unterdrücken. Die ganze Nacht lang unterhielten wir uns über Nichtigkeiten, doch in unseren Herzen herrschte Aufruhr. Wir gingen stundenlang spazieren, und es war bitterkalt. Obwohl ich aus dem Norden stamme, war mir noch nie zuvor so kalt wie hier. Als fast schon der Morgen graute, verabschiedeten wir uns schließlich vor seinem Haus. Und aus einem Gefühl heraus, ohne zu wissen, warum und wieso, küsste ich ihn. Er verkroch sich im Haus, wollte mich nicht mehr sehen. Und ich ließ keine Feier aus, keine Aufführung, kein Ballett oder Konzert, nur um ihm zu begegnen … Er war nicht da. Eines Nachts dann, es schüttete wie aus Kübeln, stand er plötzlich vor mir, hier vor diesem Schreibtisch, wo Sie jetzt sitzen, nass wie ein herrenloser Hund, mit fiebrig glänzenden Augen und zitternden Lippen. Er war wunderschön in seiner Verzweiflung.«
    Pivani schwieg. Dicke Tränen liefen ihm die Wangen herab, doch seine Stimme war ruhig geblieben, als ob er einen Bericht diktierte. Als er weitersprach, sah er Ricciardi stolz an.
    »Um Ihre Frage zu beantworten, nun, so kann ich Ihnen sagen, dass Ettore Musso di Camparino in der Nacht vom Zweiundzwanzigsten auf den Dreiundzwanzigsten hier bei mir war. Wir lieben uns, doch in der Welt, zu deren Erschaffung wir beide beitragen, ist für uns kein Platz. Und wird es nie einen Platz geben.«

    XXXVI    Heraus kam eine lange Geschichte heimlicher Treffen und eilig verbrannter Liebesbriefe, verstohlener Küsse und versteckter Tränen.
    Für die Liebe, von der Achille erzählte, gab es weder Hoffnung noch Zukunft; sie stellte eine Bedrohung dar, konnte nur im Verborgenen existieren. Und trotzdem wollte sie einfach nicht sterben, widerstand trotzig jedem vernünftigen Versuch, sie zu beenden.
    Pivani konnte nicht ausschließen, dass jemand im Parteisitz angesichts der ungewöhnlich engen Freundschaft des Funktionärs und des jungen Philosophen Verdacht geschöpft hatte; aber die Angst vor der Geheimpolizei war zu groß, um Gehässigkeiten zu verbreiten, die einen teuer zu stehen kommen könnten. Ständig und überall drohten Verbannung, Gefängnis, Arbeitsverbot. Viel leichter war es, sich kooperativ zu verhalten und jenem gefährlichen Mann aus dem Norden gefällig zu sein; diesem Mann mitseiner unergründlichen Macht, der ihnen oft schroffe, unwiderrufliche Anweisungen erteilte und von den höchsten Vertretern der Partei aus Rom angerufen wurde. Als Ettore Achille ein paar Tage zuvor von Ricciardis Fragen erzählt hatte und dabei seine Beunruhigung zum Ausdruck brachte, hatte Mastrogiacomo, der den Kaffee brachte, den Namen des Kommissars aufgeschnappt. Und als dann der Pförtner ihm berichtete, was der Polizist über die abendlichen Besuche in der Parteizentrale wissen wollte, war er selbst aktiv geworden, um sich bei seinem Vorgesetzten beliebt zu machen.
    Pivani stellte klar, dass

Weitere Kostenlose Bücher