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Der Sommer des Kometen

Der Sommer des Kometen

Titel: Der Sommer des Kometen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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der Wasserschale, aber als ich mich ihm wieder zuwandte, atmete er nicht mehr. Mir war, als habe mein eigenes Herz aufgehört zu schlagen, ich rief Pieters Namen, erst leise, flüsternd, dann immer lauter, aber Pieter war tot und hatte mich allein zurückgelassen.
    Ich hörte ein Rauschen in meinen Ohren, und ich hörte eine Stimme, die in der erkaltenden Nacht sang, Worte sang und schrie, die sich in einer eigentümlichen Melodie fanden.
    Es war meine eigene Stimme, es waren die Worte eines Chorals aus einer alten Passion. Wieder und wieder schrie ich das Lied, ich hörte und spürte nicht das Mahnen der anderen, nicht das böse Schütteln des Wächters, nicht den ersten Schlag, ich hielt den Jungen fest und sang, als könne ich das Entsetzliche damit bannen.
    Plötzlich war der Aufruhr um mich vorbei. Die Wächter zogen sich zurück, und die Männer auf ihren Lagern duckten sich. Eine leise Stimme, deren Worte ich nicht verstand, drang in mein Bewusstsein, noch ein letztes Mal flüsterte ich die Anfangsworte des Chorals ‹Wer hat dich so geschlagen›, dann war es still.»
    Auch auf der Insel in der Elbe war es nun still.
    «Ihr habt ihn sehr geliebt», sagte Claes nach einer Weile.
    «Er war mein Bruder. Oder mein Kind. Ein reiner Mensch, und es gab niemanden sonst.» Laurentus’ Stimme war tonlos. Als koste es ihn Mühe, aus jener fernen, lange vergangenen Qual in die Gegenwart zurückzukehren.
    Er atmete tief. «Wäre ich nicht zu ihm in den Graben gesprungen, hätte der Wächter vielleicht von ihm abgelassen, und er würde heute noch leben. Seine Eltern waren sehr reich, sie hätten ihn um jeden Preis gelöst. Doch ist es nicht seltsam? Sein Tod gab
mir
ein neues Leben.»
    «Aber der Wächter schlug Euch.»
    «Nur anfangs. Dann bekam er andere Befehle. Die zweite Frau des Deis hatte meinen Gesang gehört und ihren Diener nach mir geschickt.»
    «Aber was geschah dann? Wieso seid Ihr jetzt hier?»
    Laurentus sah ihn an, seine Miene war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. «Von den restlichen achtundzwanzig Jahren ist rasch berichtet. Die Dame liebte meinen Gesang, aber da ich das Frauenhaus nicht betreten konnte, wurde ich in den Palast des Deis gebracht. Es dauerte nicht lange, und er begriff, dass ich mehr konnte als singen. Und gewiss sang ich nie wieder wie in dieser Nacht. Ich bin ein guter Organisator, ich weiß mit Zahlen umzugehen und bin talentiert im Erlernen fremder Sprachen. Nach wenigen Jahren war ich, Ihr würdet sagen, sein Kämmerer. Der Dei war ein kluger, gebildeter Mensch, ich sprach gerne mit ihm und er mit mir. Fragt mich nicht, warum, aber er vertraute mir schon bald, und obwohl ich nie seinen Glauben annahm, lebte ich in einem eigenen Haus. Inzwischen habe ich fast hundert Pferde und viele Diener», nun lachte er wieder sein leises übermütiges Lachen, «ich bin reich. Er gab mir sogar eine Frau und war nicht beleidigt, als ich nur diese eine annehmen wollte. Ich bin ein Mörder und liebe meine Frau und meine Kinder. Und meine Pferde. Findet Ihr das befremdlich?»
    «Und doch kamt Ihr erst jetzt?»
    «Weil ich immer sein Sklave blieb. Meine Flucht hätte meinen Tod bedeutet, gerade weil ich dem Dei lieb und wertvoll geworden war. Seine Ehre und die Sitten des Landes hätten nicht zugelassen, mich nach einer Flucht zu verschonen. Aber als er im letzten Sommer starb, gab mir sein Sohn die Freiheit, wie sein Vater es gewünscht hatte. Ich trauere umso mehr um ihn. Sein Sohn bat mich, trotz meiner Freiheit zu bleiben und ihm zu dienen, wie zuvor dem alten Dei. Er gewährte mir ein Jahr Urlaub, und ich reiste hierher in den Norden. Den Rest meiner Geschichte kennt Ihr. Und nun werde ich dorthin zurückkehren.»
    Er griff die Pistole fester und richtete sie wieder auf Claes.
    «Versucht jetzt nicht, mich aufzuhalten. Ich will Euch nicht verletzen, aber ich müsste es tun. Wenn Ihr morgen zurück in der Stadt seid, bin ich weit genug fort. Ich hatte gedacht, es würde mich trotz meiner Pläne glücklicher machen, wieder zu Hause zu sein. Ich hatte ja so unendlich lange davon geträumt, mehr als mein halbes Leben. Aber es machte mich vom ersten Tag an traurig. Wohl, weil mein Zuhause schon lange nicht mehr hier, sondern an einem anderen Ende der Welt ist. Dort raubte mir das Heimweh oft den Schlaf, und nun quält es mich wieder.»
    «Sagt mir noch: Wer war Kosjan?»
    «Ein armer Kerl. Ich traf ihn in Marseille, er starb dort am Wechselfieber, das oft aus den Sümpfen nahe der Stadt

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