Der Sommer des Kometen
Pesthof.» Er schüttelte bedauernd den Kopf. «Gibt es heute bei Euch nichts zu essen, Struensee? Wenn wir auch über Schauriges zu reden haben, plagt mich doch der Hunger.»
Rosina und Sebastian hatten sich verspätet. Ausgerechnet heute war Jean eingefallen, dass er der Prinzipal war, und er wollte sie erst gehen lassen, nachdem sie über die Lieder für das neue Schäferstück entschieden hatten, mit dem in der nächsten Woche das Theater endlich eröffnet werden sollte. Auf der Treppe zu Struensees Wohnung begegneten sie der Bilserin, die gerade mit rotem Gesicht eine große Platte dampfenden Spargel hinauftrug. Eines der Bänder ihrer weißen Haube hatte sich zu dem schlanken grünen Gemüse in die flüssige Butter gelegt, aber sie war zu sehr in Eile, als dass Rosina sie darauf hätte aufmerksam machen können.
Die Bilserin, in deren Haus Struensee die obere Etage gemietet hatte und die ihm auch den Haushalt führte, hatte ungeduldig auf den Ruf aus dem ersten Stock gewartet. Zerkochter Spargel kam in ihrem Haus nicht auf den Tisch. Sie hatte auch, so wie er es gewünscht hatte, Kartoffeln gekocht. Allerdings war sie sicher, dass keiner seiner Gäste, wenn auch einer ein Jude war, seine Vorliebe für diese fremdländischen Knollen teilen konnte.
Tatsächlich wurden die Ergebnisse ihrer Kochkunst heute in Struensees Stube wenig gewürdigt. Die Ärzte und die Komödianten waren viel zu sehr in ihre Debatte über die Ursachen geistiger Verwirrung und ihre richtige Behandlung vertieft. Genau genommen sprachen vor allem Rohding und Struensee. Rosina und Sebastian hatten bereitwillig die Rolle der unwissend Fragenden eingenommen, und Gerson war aufmerksam, aber still wie stets.
«Als ich vor geraumer Zeit in England lebte», mischte er sich schließlich doch ein, «besuchte ich gerne die Theater. Es gibt wohl in keiner anderen Stadt so viele wie in London. Auf einer kleinen Komödienbühne am Haymarket, nicht weit von der großen Oper, sah ich ein Stück, über das ich bisweilen noch heute nachdenke. Schau nicht so unwirsch, Struensee, ich will deine gelehrten Vorträge gar nicht unterbrechen, auch wenn es so scheint, ich will sie nur bereichern. Also iss den Spargel auf, er ist sowieso schon ganz kalt, und hör zu.»
Rohding schob schmunzelnd die Gemüseplatte über den Tisch. Niemand konnte Struensees missionarischen Redefluss so diskret und doch erfolgreich stoppen wie Gerson.
«Ich weiß noch, wie das Stück hieß: Die Melancholie des Liebenden. Es geht darin um einen äußerst trübsinnigen Fürsten, der jeder Aufheiterung widersteht. Bis sein Leibarzt, er trug den seltsamen Namen Corax, ihm ein eigens für diesen Zweck gestaltetes Ballett vorführen lässt. Die Tänzer stellten alles dar, Gram, Verzweiflung, Mutlosigkeit, Lethargie, auch aufkeimende Hoffnung, eben die ganze Zerrissenheit einer verdunkelten Seele.»
«Und hat es dem grämlichen Fürsten genützt?» Struensee schob mit der letzten Kartoffel die flüssige Butter zusammen und steckte sie achtlos in den Mund. «Vergnügen ist immer heilsam, du weißt, wie ich darüber denke, Hartog, aber hauptsächlich, davon bin ich fest überzeugt, müssen die Kranken Arbeit bekommen. Würdest du nicht verrückt, wenn man dich in diese Säle des Schreckens sperrte und dich dazu an allem sinnvollen Tun hinderte? Was bleibt einem da als Toben, Schreien oder Erstarren?»
Gerson nickte, aber in seiner Antwort ignorierte er die letzten Sätze.
«Es war natürlich Theater, mein gestrenger Freund, aber dort auf der Bühne hat es tatsächlich genützt. Der Fürst wurde wieder froh, und alle waren glücklich. Könnte das im wahren Leben nicht auch gehen? Was sagt Ihr dazu, Mademoiselle?»
Rosina hatte mit großer Spannung zugehört und sah schon die Szenen vor sich, nicht als Ballett, sondern als Komödie. Die Geschichte gefiel ihr ausnehmend gut, und sie würde sie gewiss nicht vergessen. Aber jetzt lachte sie. «Es war, wie Ihr sagt, Theater. Aber das Theater ist doch auch eine Schule. Die Leute lachen und weinen vor unseren Brettern, aber ich hoffe stets, dass wir nicht nur ihre Seelen, sondern auch ihren Geist berühren.»
«Rosina ist fest davon überzeugt», erklärte Sebastian, «dass manche ab und zu über das nachdenken, was sie bei uns gesehen und gehört haben. Ich bin da nicht so sicher …»
«Weil du in der Tiefe deiner Seele auch nichts als ein Misanthrop bist.»
Darüber lachten sie beide, es war eine alte Uneinigkeit zwischen ihnen, und
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