Der Sommer des Kometen
so leitete er doch diese neue Entbindungsanstalt.
Sosehr Struensee sich bemühte, er konnte einfach nicht verstehen, warum es so schwer zu erkennen war, dass viele der quälendsten und tödlichsten Krankheiten nicht von inneren Säften, sondern von äußeren Ursachen kamen und deshalb auch rasend schnell von einem Menschen zum nächsten weitergegeben werden konnten. Vielleicht lag es einfach daran, dass die nötige Reinlichkeit vielen zu unbequem war.
Er ging noch einmal in die Krankenstube, die gerade von zwei Frauen mit viel frischem Wasser geschrubbt wurde, und beugte sich über die junge Mutter. «Clara?»
Das Mädchen schlief. Das flachsblonde Haar klebte ihr noch an der Stirn, die dunklen Ringe unter den Augen zeigten ihre Erschöpfung. Aber ihr Atem ging ruhig, und ihre schmalen Lippen waren weich, fast als lächelte sie. Wie ihr Kind, das in reine Tücher gewickelt neben ihr in einer mit Stroh gepolsterten kleinen Kiste lag, schlief sie einen gesunden Schlaf.
Von Trinitatis schlug es fünfmal, und Struensee beeilte sich, nach Hause zu kommen. Wie stets konzentrierte er sich ganz auf die Sache, die er gerade tat. In den letzten Stunden hatte er keine Sekunde an das Drama im Pesthof gedacht. Nun kehrte die Erinnerung zurück, und er sah wieder den kleinen Mann auf dem Stuhl vor sich, zu Tode gequält von einem dummen Arzt, dem man seinen schrecklichen Fehler nicht einmal vorwerfen konnte. Kletterich hatte nur getan, was üblich war.
Billkamp musste sehr geschwächt gewesen sein. Struensee hatte, seit er in Altona arbeitete, nie davon gehört, dass vor ihm jemand bei dieser Tortur gestorben war. Das erstaunte ihn mehr als Billkamps Schicksal. Das zarte Gewebe des Gehirns musste durch die Kraft des Drehens heftig an die harte Schädeldecke gepresst werden, das konnte nur großen Schaden anrichten. Geheilt hatte es jedenfalls noch niemanden. Der Teufel mochte wissen, wem die Kur mit dem Drehstuhl eingefallen war. Die Menschen mussten diese Kranken, in deren Kopf doch nur ein anderer Geist lebte als in den meisten anderen, sehr fürchten, wenn sie zu solchen Methoden griffen, um sie wieder zurechtzurücken. Und wer wusste denn überhaupt, was richtig war? Hatte immer die Mehrheit das Wahre gepachtet? Seufzend schüttelte Struensee die Gedanken ab, die ihm lange vertraut waren und ihn doch immer nur im Kreise herumführten, und schritt eilig die Kleine Mühlenstraße hinauf.
Auf dem kurzen Weg zu seiner Wohnung in der Königstraße machte er noch Besuche bei einer alten, schwer von der Gicht geplagten Witwe in einem der reicheren Häuser, und bei einem Kind, das mit seinen Eltern und fünf Geschwistern in einem der Hinterhöfe wohnte und gerade die Masern überlebt hatte. Ein Wunder, dass seine Brüder und Schwestern verschont geblieben waren.
Er ermahnte die Witwe wie schon so oft, ihrer Leidenschaft für Leber von gestopften Gänsen und mit Sahne geschmorten Schweinebauch zu widerstehen, und sich mehr an Sauerkraut, Spargel, Pilze und Erbsen zu halten. Ihrer Köchin gab er einen Beutel mit Bibernelle, Gundermann, Schafgarbe, Weidenrinde und allerlei anderen Kräutern und trug ihr auf, ihrer Herrin morgens und abends davon einen Tee zu kochen.
Dem Kind schenkte er ein paar Backpflaumen und eine schnelle Geschichte vom Wassergeist in der Elbe, steckte der Mutter kurzentschlossen die Hälfte des Entgelts, das er von der Witwe für seinen Besuch und den Tee erhalten hatte, für einen Krug frischer Milch in die Schürzentasche und war schon wieder verschwunden.
Hartog Gerson war bereits da. Der schmale junge Mann mit dem dunklen Bart saß in Struensees kleiner Studierstube neben dem größeren Wohnraum und war, wie so oft, über das Mikroskop des Freundes gebeugt. Neben dem kostbaren Gerät lagen nicht minder kostbare Bücher. Gerson hatte die ‹Micrographia› von Hooke aufgeschlagen, ein hundert Jahre altes und immer noch unersetzliches Werk, in dem alle nur denkbaren Insekten und auch einzelne ihrer zarten Körperteile so abgebildet waren, als betrachte man sie durch eine Lupe oder ein Mikroskop. Er hatte das schwere Buch gegen zwei andere gestützt, Swammerdams ‹Historia insectorum generalis› und Pascals ‹Pensées›. Die kostbaren Bücher waren Struensees größter Schatz und wie das Mikroskop Erbe seines Großvaters, der nicht nur in der Berufswahl sein Vorbild gewesen war. Aber auch wenn er, anders als die meisten seiner Kollegen, das Mikroskop zu den wertvollsten ärztlichen Werkzeugen zählte,
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