Der Sommer des Kometen
fehlte ihm die innere Ruhe für die konzentrierte geduldige Arbeit der Augen. Gerson dagegen konnte sich stundenlang in diese Welt der Winzigkeiten vertiefen, und seine Ergebnisse mit dem Freund zu teilen und zu diskutieren, half ihm wie Struensee auf die beste Weise.
«War deine Vermutung richtig?», fragte Struensee statt einer Begrüßung. Er wusste, dass Gerson sich in diesen Tagen mit Stechmücken beschäftigte, weil er davon überzeugt war, dass die für die Verbreitung des Wechselfiebers oder Marschfiebers, wie es im Holsteinischen genannt wurde, verantwortlich waren. Was allerdings nicht der Lehrmeinung entsprach, die auch dieses Fieber als Folge von schlechten Dämpfen sah. Das Fieber war in diesen drückenden Tagen wieder heftig ausgebrochen, und Gerson fürchtete, es werde bald aus den sumpfigen Regionen des Landes in die Stadt gelangen.
Je mehr wir die Einzeldinge kennen, umso mehr erkennen wir Gott, hatte der jüdische Philosoph und Linsenschleifer Spinoza einst gesagt. Spinoza war von Juden wie von Christen als Ketzer verdammt worden, aber Struensee, der Christ, und Gerson, der Jude, gehörten zu denen, die seiner Lehre heimlich anhingen. Das Prinzip der Erkenntnisse durch das Mikroskopieren stand ihnen für alle Dinge auf der Welt: Hinter allem, was das Auge entdecken konnte, steckte noch etwas anderes, Kleineres. So sahen die Menschen im immer Kleineren immer mehr. Das Letzte, am tiefsten Verborgene war das wirklich Bedeutungsvolle, erst mit dem Kleinsten erkannte man das Große, das Ganze. Nicht nur das Göttliche, hatte Struensee gefunden, sondern auch die wahre Ursache aller Übel. Und manchmal auch allen Glücks.
«Ich bin noch nicht sicher, ob meine Vermutung richtig ist», murmelte Gerson nach einer Weile. Er sah auf, rieb sich die Augen und seufzte: «Wenn doch nur die Linsenschleiferei endlich größere Fortschritte machen würde. Ich kann einfach nicht genug erkennen. Sag mir, was du siehst.»
Struensee warf einen flüchtigen Blick durch das schwarze, mit zierlichen Malereien von Insekten und Blumen verzierte Rohr. Dann schüttelte er den Kopf.
«Ich habe heute schon genug gesehen. Außerdem», er blickte zur Standuhr zwischen den Fenstern, «die anderen kommen gleich.»
Gerson nickte. Er wusste, was am Morgen im Pesthof geschehen war und dass Struensee die Sache heute Abend mit Rohding und den beiden Komödianten noch einmal überlegen wollte. Es war ihm recht. Struensee führte trotz seiner geringen Einkünfte ein gastfreies Haus, seine Tafelrunden mit den unterschiedlichsten Gästen waren immer unterhaltsam und oft äußerst anregend für seinen und Struensees stets hungrigen Geist. Aber einen so seltsamen Tod hatten sie noch nie erörtert.
«Was hast du eigentlich vor? Willst du etwa gegen Kletterich streiten?»
Struensee zuckte mit den Achseln. «Das wäre Sache der Hamburger Ärzte. Und im Moment steht mir auch nicht der Sinn danach. Ich habe schon genug Ärger.»
«In deinem Gesicht lese ich, dass dein Kampfgeist dennoch wach und ungestüm ist. Gib acht, mein Freund, du wärst nicht der erste Armenarzt, der aus der Stadt gejagt wird, weil er sich zu ungeschickt mit den mächtigen Herren angelegt hat.»
Struensee lachte unbekümmert. «So ist es eben. Die Menschen hassen nun mal nicht so sehr den, der etwas Verkehrtes tut, sondern stets den, der es beim Namen nennt. Aber gerade du hast gut warnen. Den Deinen bist du doch auch zu weltlich. Was sagt denn dein Rabbi zu deinen spinozistischen Gedanken?»
«Ich rede mit ihm nicht darüber», antwortete Gerson mit sanftem Augenaufschlag. «Du weißt doch: Man soll schweigen, wenn weise alte Männer sprechen.»
Gerson, etwa zehn Jahre älter als sein Freund Struensee, stammte aus einer alten jüdischen Arztfamilie und hatte wie sein Vater in Holland und England studiert. Nun war er der Arzt der jüdischen Gemeinde von Altona und leitete auch deren kleines Krankenhaus, das erst kürzlich neben dem jüdischen Friedhof an der Königstraße eröffnet worden war. Ihre Freundschaft währte schon seit jenem mörderischen April 1759 , als die brandige Halsbräune in ganz Holstein Hunderte Kinder getötet hatte. In Altona waren die meisten in der Kleinen Papagoyenstraße gestorben, wo vor allem die jüdischen Familien der Stadt wohnten.
In Hamburg, das von jeher fast nur reichen jüdischen Familien ein Wohnrecht einräumte, lebten vor allem ursprünglich aus Portugal stammende vornehme Sepharden, die mit ihren guten Beziehungen bis weit
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