Der Sommer des Kometen
Kutsche auf das Millerntor zurollte, ließ er halten und machte sich zu Fuß auf den Weg durch die Stadt. Er ging durch den Neuen Steinweg, wich einer Sänfte aus, die von vier schwitzenden Lakaien getragen wurde, Wappen an der Seite verrieten ihm, dass sie zum Haus des französischen Gesandten gehörte, stieg über einen dicken schwarzen Hund, der mit hechelnder Zunge mitten auf dem Weg lag, und erreichte schließlich den Großneumarkt. Der seltsame Kometenheilige hatte sein Revier gewechselt. Die Stadtsoldaten vor dem Wachhaus, alle ohne Mütze und die rotweißen Röcke ganz unmilitärisch geöffnet, begafften ihn genauso wie die Menge, die sich um ihn scharte. An anderen Tagen wäre er sicher auch stehen geblieben, hätte sich das Spektakel angesehen und seinen Spaß gehabt, aber heute? Heute wirklich nicht.
Er passierte den Alten Steinweg, der völlig verlassen war, und gelangte über die Stadthausbrücke in den Burstah. Obwohl er auf seinem Weg häufig nach links und rechts gegrüßt und ein- oder zweimal sogar ein paar Worte gewechselt hatte, erinnerte er sich an keines der vielen Gesichter, die er gesehen hatte, als er endlich an seinem Lieblingstisch hinter den vorderen Fenstern von Jensens Kaffeehaus saß.
«Und die Frau Gemahlin ist wohlauf? Pflanzt sie wieder neue Bäume?» – Jensen stellte mit elegantem Schwung die dampfende Kaffeetasse und ein hübsch gedrehtes Messingkännchen zum Nachfüllen auf den Tisch und lächelte beflissen.
«Im Juni pflanzt kein vernünftiger Mensch Bäume, Jensen», blaffte Claes den Wirt an und starrte wieder auf die neueste Ausgabe des
Hamburgischen Correspondenten,
die er nun schon geraume Zeit in den Händen hielt, ohne auch nur ein Wort zu entziffern.
«Jensen!», rief er dann dem erschreckt davoneilenden Wirt nach. Der blieb stehen und sah seinen Gast, den er noch nie so unfreundlich erlebt hatte, abwartend an.
Claes räusperte sich und sagte: «Meiner Frau geht es ganz ausgezeichnet. Und ihren Bäumen auch.»
Im Kaffeehaus war es noch still. In einer halben Stunde, wenn die Börse schloss, würde hier auch der letzte Stuhl besetzt sein.
Claes war die Ruhe recht. Als er in der Palmaille in die Kutsche stieg, war er wie betäubt gewesen. Die Bilder und Gedanken in seinem Kopf stritten um Bedeutung und Vorrang, vermischten sich zu einer Melange, die schließlich zu einem unklaren, aber tiefem Unbehagen gerann. Selbstverständlich würde Christian sich mit dieser Zurückweisung nicht einfach zufriedengeben. Das konnte er nicht, wenn seine Gefühle für das Mädchen so tief waren, wie er vorgab. Und auch er selbst, Claes, konnte sich damit nicht zufriedengeben. Wäre die Mutter des Mädchens nicht Gunda gewesen, hätte er sich und seine ganze Familie von ihrer strikten Ablehnung zutiefst beleidigt gefühlt. Nun war er nur verärgert und verwirrt.
Nun gut. Lucia war Mennonitin, Christian Lutheraner. Aber viel mehr als unbequem konnte das nicht sein. Wenn sie Katholikin oder gar Jüdin gewesen wäre, hätten die Priester und Rabbiner eine solche Verbindung tatsächlich für sündhaft gehalten. Doch die Schwierigkeiten einer Ehe zwischen Christian und seiner geliebten Lucia konnten nicht unüberwindlich sein. Wie hatte Christian gesagt? Lucias Mutter sei schrecklich fromm. Am besten ließ er ihr ein wenig Zeit und sprach dann noch einmal in der Palmaille vor. Vielleicht war der Kapitän vernünftiger. Konnte er sich eine bessere Partie für seine Tochter wünschen?
Nur ungern gestand Claes sich ein, dass er nicht so ganz an Gundas steife Frömmigkeit glaubte. Er glaubte vielmehr, dass dieses Drama, das sie mit dem Namen Herrmanns verband, die Liebe zwischen ihren Kindern nicht zuließ. Und das war unvernünftig, also musste es zu überwinden sein.
Er bemühte sich um Ruhe und spürte doch Ärger. Musste Christian sich ausgerechnet jetzt auf eine so komplizierte Liebschaft einlassen?
Sein Haus war solide, aber die Zeiten waren dennoch hart genug. Seit dem Ende der siebenjährigen Kriege zwischen Preußen und Österreich um die Vorherrschaft auf dem Kontinent und zwischen England, Spanien und Frankreich um ihre überseeischen Kolonien, ging es den Hamburgern an ihre Gewinne. Der Zusammenbruch der preußischen Währung hatte in den letzten zwei Jahren zahlreiche holländische Banken ruiniert, die wiederum viele Hamburger Kaufleute mit in den Bankrott gezogen hatten. Um ihre leere Kasse zu füllen, hatten die Preußen ihre Grenzen für einige Waren geschlossen oder die
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