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Der Sommer des Kometen

Der Sommer des Kometen

Titel: Der Sommer des Kometen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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dulden sie alle. Zauberpantomimen, Taschenspieler, Zahnbrecher und Quacksalber, dressierte Affen und zweiköpfige Kälber, sogar eine ganze Straße voller armer Juden. Warum nicht auch einen Kometenbeschwörer?»
    «Du hast die Komödianten vergessen.»
    Rosina stützte sich auf seinen Arm, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, über die vielen Schultern vor ihr den Mann, von dem man auch in Altona sprach, zu erkennen. Zwischen modisch aufgetürmten Frisuren, braven Hauben, Dreispitzen, runden Arbeitshüten und Tuchkappen hindurch sah sie ein dunkles Gesicht mit geschlossenen Augen unter langem schwarzen Haar, sah ausgebreitete sehnige Arme in weiten weißen Ärmeln, die bis zu den Ellenbogen hinaufgerutscht waren.
    Sie war enttäuscht. Ein wenig mehr Geheimnisvolles hatte sie von einem, der mit den Sternen im Bunde sein wollte, doch erwartet. Er sah nicht viel anders aus als Jean, wenn er, ein wenig Farbe im Gesicht und eine wallende Perücke auf dem Kopf, mal wieder eine seiner Lieblingsrollen darstellte, den edlen Zeus auf dem Olymp oder Hieronymus, den Einsiedler in der Wüste, wobei Letzterer gegen alle Wahrscheinlichkeit, aber zur Begeisterung des Publikums von einer Meernymphe mit kastanienrotem Haar verführt wurde.
    «Und warum stehen die Leute alle so vor ihm, ergeben wie vor dem Erzengel Gabriel persönlich? Macht er irgendwelche verdienstvollen Kunststücke, lässt er es regnen, oder überzeugt er die Sonne, dass sie sich mal ein bisschen zurückhalten soll?»
    «Sei still, Rosina!» Helena stieß die Freundin warnend in die Seite. «Sonst trifft dich sein Fluch als Erste.»
    Sie kicherte, aber Rosina fand, es klang weniger vergnügt als nervös. Helena war für jeden Spuk empfänglich. In ihren Reisekästen und -taschen waren Glücksbringer versteckt, und sie betrat niemals die Bühne ohne das kleine silbergefasste Amulett aus russischem Lapislazuli.
    «Sie warten darauf, dass er spricht», erklärte Helena flüsternd. «Er spricht an jedem Nachmittag, immer, wenn er seine Vision hat. Der Komet, sagt er, kommt jeden Tag näher, und wenn er da ist, wird das Gericht die treffen, die es verdient haben.»
    «Welches Gericht? Glaubst du, er darf für Gott sprechen?»
    «Psst, du versündigst dich.» Helena sah sich flink um, doch niemand beachtete die beiden Frauen. «Das weiß keiner, aber der Herr dort drüben», sie zeigte auf einen würdigen kleinen Mann, der in der schlichten schwarzen Tracht eines Gelehrten im Schatten einer Linde stand und sich mit einem dünnen, gewiss sehr bedeutenden Buch Luft zufächelte, «der Herr dort sagt, dass auch kurz vor der letzten Pest ein großer Komet über den Himmel wanderte, er hatte vier Schweife, und auch vor der letzten großen Flut, die ganze Inseln und zahllose Menschen verschluckte, vom Vieh gar nicht erst zu sprechen, war ein Komet am Himmel.»
    Rosina schwieg. Ihr fiel einfach nichts ein, was sie darauf sagen konnte. Sie würde Lies nach dieser Kometensache fragen. Niemand kannte sich in Dingen, die irgendwo zwischen Himmel und Erde zu Hause waren, so gut aus wie Lies. Aber eines wusste sie genau, sie wollte nicht länger mit all diesen Menschen in der Sonne stehen, egal, ob sie doch den Blick dieses seltsamen Fremden fürchtete oder nur die pralle Hitze.
    Und weil Helena unbedingt auf die Vision des Mannes warten wollte, gingen Rosina und Sebastian allein zum
Bremer Schlüssel
in die Fuhlentwiete voraus.
    Es hatte zwar so ausgesehen, als ob sich alle Bewohner der Neustadt auf dem Großneumarkt versammelt hätten, aber das konnte nicht sein. In der Schenke waren alle Bänke und Schemel besetzt, und der Lärm der Gäste drang Rosina und Sebastian schon entgegen, als sie vom Alten Steinweg in die Twiete einbogen. Sie betraten den dämmerigen Raum, und bevor sie sich im Gedränge der Männer auf die Suche nach Titus machen konnten, hatte Jakobsen sie bereits entdeckt.
    «Sebastian», brüllte er – die kräftige Stimme des Wirtes hätte selbst den Donner preußischer Kanonen übertönt – «und Mademoiselle Rosina!»
    Eilig steckte er den Holzstöpsel in das Bierfass, stellte den erst halb gefüllten tönernen Krug auf den Schanktisch und schob sich zwischen Bänken und Tischen zur Tür, um die beiden Neuankömmlinge zu begrüßen. Er rieb seine großen Hände an der Lederschürze ab und umarmte sie freudig.
    «Wie schön, dass ihr wieder hier seid. Was wollt ihr bloß bei den Altonaern? Bei uns habt ihr doch viel besseres Publikum als die blassen

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