Der Sommer des Kometen
Wällen mit ihren Türmen und den zusammengedrängten Dächern und Giebeln aus wie ein überladenes Fuhrwerk. Dann schien es ganz selbstverständlich, dass es dort schon am frühen Morgen stickig war. Besonders in diesen Wochen, in denen selbst die Nächte ohne Wind blieben, hingen die Ausdünstungen der hunderttausend Menschen und der moderige Geruch aus den Fleeten ständig über den Dächern. Von der Krugkoppel aber sah er über den ganzen langgestreckten See mit seinen sanften grünen Ufern, die die Festung durchbrachen, und das Bild der Stadt mit ihren eleganten Türmen bot im rosigen Morgenlicht kurz vor Sonnenaufgang den schönsten Anblick, den er je genossen hatte. Außer Lucia natürlich.
Christian wandte sich um und blickte nach Norden den Fluss hinauf. Ein müdes Bauernpaar aus Eppendorf, Wellingsbüttel oder Ohlsdorf stakte seinen mit Körben und Ballen beladenen Kahn flussabwärts zum See. Der dicke rotbraune Hund im Bug hielt genüsslich die Nase in die feuchte Morgenluft. Der Mann und die Frau mussten noch weit staken, bis sie über die Alster und durch die ganze Stadt den Markt an der Trostbrücke oder den Hafen erreichten.
Über St. Georg ging glühend die Sonne auf. Sie schien träge, als mache es ihr Mühe, die gelbgraue Wolkenwand vor dem Horizont zu überwinden. Das Land war still, nur die Vögel, die sich in den mächtigen Kronen der Eichen zu ihrem Morgenkonvent versammelt hatten, sangen und keckerten, schilpten und trillerten, als gelte es, den Preis der Meistersinger zu gewinnen.
Christian lenkte die Stute im langsamen Trab über den Licentiatenberg, eine lindenbestandene Anhöhe, und bog in den mittleren Fahrweg ein, den die Leute aus den Dörfern einfach Mittelweg nannten. Über das dichte Gebüsch jenseits der Wiesen ragte der gedrungene Turm der Kirche von Eppendorf, einige Kühe und Ziegen standen schläfrig im Gras, die Welt schien menschenleer.
«Komm, Bella», er schnalzte leise, «nur noch eine kleine Galgenfrist, bis Stall und Kontor uns wieder einsperren.»
Sofort fiel die Stute in übermütigen Galopp, und Christian hörte sich lachen, er fühlte die starken Muskeln des Tieres zwischen seinen Schenkeln, eine Kraft, die auf ihn überging, die reine Freude war, Lust zu leben und die sichere Erwartung zukünftigen Glücks.
Wenn er den kürzesten Weg durch das Dammtor gewählt hätte, wären die nächsten Tage für ihn und auch für seinen Vater und Anne sehr viel beschaulicher gewesen, aber das ahnte er nicht, und so galoppierte er voller Lust über den beginnenden Tag den längsten Weg am breiten Stadtgraben entlang, der vor den Wällen die Stadt umschloss, und auf die Elbe und das Millerntor zu.
Durch dieses Tor strömten von jeher die meisten Menschen und Wagen in die Stadt. Auch an diesem Morgen, es mochte gerade sechs Uhr sein, stauten sich schon die Fuhrwerke und Karren aus Altona, Bahrenfeld oder Ottensen auf ihrem Weg zu den Märkten und Anlegern. Zwei Jungen zerrten ein schwarzweißes Rind und zwei geschorene Hammel an Stricken auf ihrem letzten Gang zu den Schlachterbuden an Wagen vorbei, eine ganze Schar ärmlich gekleideter Frauen mit schweren Körben oder in Tücher gewickelten Töpfen voller gesalzener Butter, Käse, Fleisch oder gerupftem Geflügel und frisch geschnittenen Kräutern stritten vor der Akzisebude mit einem rotgesichtigen Zolleinnehmer. Der verlangte standhaft, dass sich eine von ihnen, ein sommersprossiges Mädchen mit ungewöhnlich breiten Röcken, durchsuchen lasse. An keinem der Tore wurde so viel geschmuggelt wie an diesem.
Christian stieg ab, führte Bella an den Fuhrwerken vorbei auf der Zugbrücke über den Graben und hatte Glück: Die Wachsoldaten erkannten den jungen Herrmanns und winkten ihn an den anderen vorbei. Hier kam niemand hinein oder hinaus, ohne gesehen zu werden. Während am Steintor am anderen Ende der Stadt schon seit der Toröffnung ganze Wagenkolonnen auf die Straße nach Lübeck oder über Bergedorf elbaufwärts zur Furt bei Artlenburg oder zur Fähre nach Zollenspieker rollten, verließen um diese frühe Stunde nur sehr wenige Menschen und Wagen die Stadt in westliche Richtung und ins Dänische. Christian beachtete sie nicht, nur ein eiliger dicker Mann mit struppigem gelbem Haar fiel ihm auf. Sein Gesicht war sonnengebräunt, dennoch wirkte er bleich, und sein breites Kinn brauchte dringend ein Badermesser.
Schnell stieg Christian in den Sattel und beschloss, sich noch einen Blick nach Altona zu gönnen. Vielleicht
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