Der Sommer des Kometen
Herrmanns ins Kontor gebracht hatte, wickelte es um ein Stück Roggenbrot und stopfte beides unachtsam in den Mund. Für ein ruhiges zweites Frühstück im Salon oder in der Küche war heute keine Zeit.
«Du sagst, es war noch früh. Wie früh? Hast du nicht auf die Uhr am Millerntorturm gesehen?»
Christian schüttelte den Kopf. «Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich hatte ja sehr viel Zeit. Außerdem bleibt die in den letzten Wochen andauernd stehen. Es heißt, die Hitze habe das Öl im Räderwerk eintrocknen lassen.»
«Aber warum haben die Soldaten ihn nicht schon früher gefunden? Er kann doch nur wenige Schritte vom Wachhaus gestorben sein.»
«Da war niemand. Deshalb bin ich ja gleich zum Zeughaus geritten. Es ist ja sowieso nicht gerade klug, sich ausgerechnet den Platz neben einer Wache für ein Verbrechen auszusuchen. Aber ich weiß nicht, ob noch alle zweiundzwanzig Bastionen ständig bewacht werden.»
Das wusste Claes auch nicht. Es erschien ihm auch gerade bei der Bastion Albertus ziemlich überflüssig. Wer verrückt genug war, dort hinaufsteigen zu wollen, scheiterte schon am Vorwerk, und dann hatte er einen Wall vor sich, der dreißig Fuß steil aufragte. Es war unmöglich, dort hinaufzugelangen. Es sei denn, man besaß Flügel oder andere übermenschliche Gaben.
«Also war niemand außer dir dort. Wenn du auf der Bastion nur mit der Wache gesprochen hast, wird bald jemand von der Wedde kommen, um dich auch zu befragen. Lass uns alles noch einmal durchgehen, damit du gut vorbereitet bist.»
«Warum machst du dir so viele Gedanken, Vater? Ich habe Marburger entdeckt, ich habe die Wache geholt, und damit ist es doch erledigt. Du tust fast so, als hätte ich etwas mit seinem Tod zu tun.»
«Unsinn, Christian, niemand wird es wagen, dich zu verdächtigen.» Seine Worte klangen allerdings nicht überzeugend. «Aber so eine Sache ist immer misslich. Es ist unangenehm für uns, mit einem Mord zu tun zu haben. Es kostet Zeit und Nerven, und die brauchen wir gerade jetzt für anderes. Also erzähl mir noch mal alles genau, dann geht die Unterhaltung mit der Wedde umso schneller, und wir können wieder unsere Arbeit tun.»
Die letzten Worte hatte er sehr laut gesprochen und dabei grimmig durch die von großen Fenstern durchbrochene Wand zum Raum der Lehrlinge gesehen. Fietz und Dübbel, die angestrengt lauschend versucht hatten, wenigstens ein paar Fetzen von dieser aufregenden Sache mitzubekommen, beugten sich eilig über ihre Tische.
Christian verstand die Nervosität seines Vaters zwar nicht, aber bereitwillig erzählte er noch einmal, wie er den Zuckerbäcker gefunden hatte.
«Ich war wirklich erschrocken», schloss er seinen Bericht, «als ich merkte, dass er tot war. Ich will nicht behaupten, dass ich von tiefer Trauer erfasst wurde. Im Gegenteil, mein erster Gedanke war: Nun hat er bekommen, was er verdient …»
«Das, mein Sohn, wirst du der Wedde auf keinen Fall erzählen.»
Christian lachte. «Ganz wie du wünschst. Aber ich bin sicher, dass nur sehr wenige Menschen in der Stadt anders denken.»
«Was hast du dann gemacht?»
«Dann?» Christian überlegte einen Moment. «Dann habe ich gedacht, dass ich mich vielleicht irre. Ich kenne mich nicht gut aus mit Toten. Also habe ich ihn an der Schulter gerüttelt. Da rutschte er ganz langsam auf die Seite, was sehr gruselig war, weil er mich immer aus diesen halb geöffneten Augen anstarrte. Dann bin ich so schnell ich konnte zur Wache am Zeughaus geritten und habe Alarm geschlagen. Die kamen alle gleich mit, es waren auch ein paar Dragoner da, ich glaube vier, und dann standen wir um den toten Marburger herum, bis einer der Dragoner ihn schließlich ordentlich auf die Bank legte. Aber da kam schon Wagner angerannt, der kleine Weddemeister, und scheuchte alle auseinander. Er hat sich meine Geschichte angehört, so genau wie du wollte er es allerdings gar nicht wissen, und mich nach Hause geschickt. Also bin ich hierher geritten, habe Bella in den Stall gebracht und bin auf der Suche nach einem Frühstück zu Elsbeth in die Küche gegangen. Ich hatte schrecklichen Hunger.»
Das Uhrwerk von St. Katharinen schlug, und Claes zählte die Schläge mit.
«Schon zehn», murmelte er. «Sie werden bald kommen. Kanntest du Marburger? Immerhin gönnst du ihm diesen Tod.»
«Ich kannte ihn nicht besser als du. Er hat von uns Zucker gekauft, aber das hat meistens Pagerian erledigt, sein Schreiber. Dass er ein Mistkerl war, wusste jeder, und was er
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