Der Sommer des Kometen
Springeltwiete gehen, in den dritten Gang links und dann, nun sei es sehr schwer zu erklären, am besten fragte man dann jemanden. Menschen seien da mehr als genug.
Ganz sicher hatte Pagerian nicht angenommen, der vornehme Kaufmann würde sich selbst auf die Suche nach Oswald machen, aber Claes hatte es ihm auch nicht auf die Nase gebunden. Nicht jeder sollte wissen, dass er van Witten half, Marburgers Mörder zu suchen.
Wer würde es schon wagen, ihm, einem kräftigen Mann, am hellen Tag etwas anzutun? Und was war einfacher, als einem Jungen ein kleines Kupferstück zu geben, damit er ihn führte? Hätte er eine Eskorte gebraucht, hätte er Wagner mitgenommen. Aber er wollte allein gehen, unbemerkt, damit Oswald nicht gewarnt wurde und ihm davonlief. Deshalb hatte er Brooks auch schon bei der Springeltwiete und nicht direkt vor dem Hof an der Steinstraße halten lassen, durch den man schneller zu Oswalds Wohnung gelangte.
Der Durchgang in den Hof war schmal und so niedrig, dass Claes den Kopf beugen musste. Die Luft veränderte sich schlagartig. Auf der breiten, wie immer sehr belebten Steinstraße war es schwül und staubig wie in der ganzen Stadt gewesen, nun war ihm, als betrete er eine Orangerie. Allerdings duftete es nicht nach Zitronen, Pfirsichen und Rosen. Der faulige Gestank von Urin, Kohlsuppen, Schweine- und Hühnermist, altem Fisch, schimmeligen Mauern und verwesendem Abfall nahm ihm fast den Atem, und er beeilte sich, den dritten Gang zu erreichen. Der Streit gellender Stimmen drang aus einem der übervölkerten Keller herauf, ein Säugling schrie, oder war es eine gequälte Katze?, eine stumpfe Säge knarrte durch zu hartes Holz, und über allem sang wie zum Spott eine Amsel.
Endlich fand er den engen Durchlass und stolperte fast über ein Kind, das trotz seiner von der Englischen Krankheit missgestalteten kurzen Beine und des verkrümmten Rückens flink wie ein Wiesel durch den Gang huschte und in einer Tür verschwand. Gebückt ging er weiter und fand sich, nur wenige Schritte von den schönen Häusern der Bürger, in einer Welt wieder, die nichts als Hoffnungslosigkeit atmete. Die nur notdürftig ausgebesserten schiefen Wände der uralten Häuser ließen kaum Raum für einen breitschultrigen Mann, Stockwerk für Stockwerk ragten sie weit vor, bis sie im Dachgeschoss fast zusammenwuchsen, geöffnete Fensterflügel waren einander im Weg, und auf Leinen hoch über seinem Kopf hingen dunkle, stockfleckige Wäschestücke, die noch das letzte Licht verschluckten. Seine Augen gewöhnten sich schnell an den dunstigen Dämmer, er sah nur wenige Menschen, aber er spürte deutlich die Gegenwart der Elenden, die hinter diesen Wänden von den feuchten Kellern bis zu den Böden unter löchrigen Dächern in unmenschlicher Enge hausten.
Ein fremder Kontinent, dachte er, und bedauerte zum ersten Mal, dass er Brooks Begleitung so unwirsch zurückgewiesen hatte. Ein zahnloser Alter drängte sich grinsend an ihn heran. Claes roch seinen Branntweinatem und die Ausdünstungen der eitrigen Schwären auf den Armen und griff eilig in die Tasche. Ohne ihn zu berühren, ließ er voller Ekel zwei Pfennige in seine gichtig verkrüppelte, fordernde Hand fallen und stolperte weiter.
Plötzlich endete der Gang. Wo ging es weiter? Hinter einer ausgetretenen Holztreppe, die in einen Kellergang hinabführte, glaubte er einen Schimmer von Tageslicht zu erkennen. Er dachte an die Labyrinthe aus Buchsbaum und hohen Eibenhecken der englischen und französischen Gärten, in denen wohlgenährte Damen und Herren in Samt, Seide und Spitzen sich neckten und amüsierten. Das düstere Gewirr dieser Gänge erschien ihm nun wie eine Verhöhnung jener zierlichen Irrgärten.
Der Unrat hatte seine Schuhe aufgeweicht, und als er über eine Bohle stolperte, die über einem ausgetrockneten Rinnsal lag, lösten sich die Sohlen. Er beugte sich über seine Schuhe, und gerade als er überlegte, ob es nicht klüger sei, sie liegen zu lassen und auf Strümpfen weiter durch den Morast zu waten, schoben sich ein paar nackte, schwarze Füße in sein Blickfeld. Vor ihm standen vier Männer, sehr junge Männer mit uralten Gesichtern, barfuß und fast kahlgeschoren, in zerlumpten Kleidern. Nur einer, der größte, trug einen Rock aus gutem braunem Tuch, schmutzig wie die der anderen, aber ganz sicher hatte er ihn nicht selbst bezahlt. In dem breiten Lederriemen, den er um seinen mageren, aber sehnigen Leib gewunden hatte, steckte ein Messer mit einem
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