Der Sommer des Kometen
Hirschhorngriff. Claes hörte, wie eilig einige Fenster zugeklappt wurden, und plötzlich war es ganz still. Nur von ferne klang das gleichmäßige Dröhnen eines Schmiedehammers.
Rosina sah mit gerunzelter Stirn auf den Brief, den sie gerade gelesen hatte, und gab ihn Sebastian zurück.
«Wirst du es tun?»
«Ich halte es für eine gute Idee. Es bringt uns ein wenig Geld, und ganz sicher ist es eine Gelegenheit, ein bisschen in Marburgers Geschäftspapieren zu blättern. Das steht zwar nicht so direkt in Herrmanns’ Schreiben, aber natürlich erhofft er sich von diesem Arrangement auch ein paar interessante Auskünfte. Ich bin gewiss», Sebastian grinste breit, «er erinnert sich gut an unsere Gabe, Geheimnisse aufzuspüren.»
Rosina nickte lächelnd. «Das denke ich auch. Aber wer hätte gedacht, dass der ehrbare Kaufmann auf solche Mittel setzt?»
Ein Bote hatte den Brief vor einer Viertelstunde in die Wohnung der Becker’schen Gesellschaft in der Altonaer Elbstraße gebracht. Er war an Sebastian gerichtet und nur kurz. Claes hatte keine Zeit mit den sonst üblichen blumigen Höflichkeitsfloskeln verschwendet. Im Kontor des verstorbenen Zuckerbäckers Marburger, schrieb er, werde dringend ein Hilfsschreiber gebraucht. Nur für die nächsten zwei oder drei Wochen, bis Pagerian, der das Kontor seines toten Herrn nun leite, die in den letzten Jahren offenbar ein wenig unübersichtlich geratenen Geschäftsunterlagen geprüft und geordnet habe. Der Hilfsschreiber brauche keine besonderen Kenntnisse in Zuckergeschäften, er müsse nur sauber schreiben und gut rechnen können und fügsam und vertrauenswürdig sein. Er, Herrmanns, habe Pagerian in dieser doch sehr betrüblichen Notlage zugesichert, einen jungen Mann mit all diesen Eigenschaften und Fähigkeiten zu ihm zu schicken. Pagerian erwarte einen ehemaligen Studenten der Universität Halle, einen Verwandten eines Handelsfreundes der Familie Herrmanns. Er hoffe, er habe nicht zu viel versprochen, als er Pagerian, der im Übrigen, ganz anders als sein einstiger Herr, ein angenehmer Mensch sei, diesen jungen Schreiber für Montagmorgen, bald nach sieben Uhr, angekündigt hatte.
Nach einigen Worten über den Lohn und einer Beschreibung des Weges zum Kontor im Dreckwall schloss Herrmanns mit der Bitte, Sebastian möge eilendst Bescheid geben, wenn er aus irgendeinem Grund verhindert sei, das Angebot anzunehmen, was er sich allerdings bei dem allseitigen Interesse am Hause Marburger nicht vorstellen könne.
«Angebot?», sagte Rosina. «Das klingt eher wie ein Befehl.»
«Mehr wie eine sehr dringliche Bitte. Sei nicht so streng mit ihm, er ist gewöhnt, dass alle nach seiner Pfeife tanzen, und wie hätte er sich sonst ausdrücken sollen? Wenn der Brief in die falschen Hände gerät, bekommt er schon jetzt mächtig Ärger. Einen Zimtkringel für deine Gedanken, Rosina, du brütest doch irgendwas Unvernünftiges aus.»
«Unsinn. Aber wir sollten die anderen zusammenrufen und die Angelegenheit besprechen. Ich fürchte», und sie lächelte dabei ihr gefürchtetes Ozelotlächeln, «Rudolf braucht dich gerade am Montag ganz dringend in der Theaterscheune.»
In diesem Moment ging die Tür auf. Helena trat ein, begleitet von einem jungen Mann, den Rosina und Sebastian noch nie gesehen hatten.
«Ich bringe dir Monsieur Schmitt, Rosina.»
«Smid», verbesserte der und hob dabei vorsichtig den linken Zeigefinger, «van Smid.»
«Ich bin im Hof», sagte Sebastian und schob sich an Helena und dem Besucher vorbei auf die Treppe. «Jean soll den Brief gleich lesen.»
«Also, Monsieur van Smid», fuhr Helena mit einem neugierigen Blick auf das gesiegelte Papier, das Sebastian in der Hand hielt, fort. «Er möchte dich ganz dringlich sprechen, Rosina, und niemandem sonst verraten, was er will. Er sieht nicht aus wie ein Räuber, also überlasse ich ihn dir. Aber wenn du mich brauchst, bin ich gleich da.»
Cornelius van Smid errötete bei dieser Unterstellung und verbeugte sich höflich. Er mochte 25 Jahre alt sein, aber er hatte den rosigen Teint eines Knaben, was ihn unter seiner nussbraunen Perücke, deren akkurate Lockenrollen über die Ohren und bis zum Kinn reichten, noch jünger erscheinen ließ. Sein steifer umbrafarbener Rock war trotz der Schwüle bis zum letzten Knopf unter der makellos weißen Halsbinde geschlossen. Er sah Rosina an und versuchte, sein anhaltendes Erröten durch eine zweite kleine Verbeugung zu verbergen.
Rosina hatte schon viele dieser
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