Der Sommer des Kometen
Hexensalbe verstanden, sondern sie auch gründlich ausprobiert hatten. Und wahrscheinlich mit dem größten Vergnügen. In dem gläsernen Näpfchen war tatsächlich Hexensalbe gewesen, und zwar, so hatte Matti immer noch erschöpft betont, von exzellenter Qualität. Am besten wäre es, sobald sie heute Abend das Kontor verlassen konnte, nach Harvestehude hinauszugehen. Wenn sie sich beeilte, konnte sie es vor dem Dunkelwerden noch zurück nach Altona schaffen. Helena würde schon vor Neugier platzen.
Claes Herrmanns hielt sich nicht lange bei Pagerian auf. Der musste auf der Bank gute Nachricht bekommen haben, denn er saß auf dem kostbaren Lehnstuhl seines toten Herrn und machte die schmalen Schultern breit, als sei das schon immer sein Stuhl gewesen. Er verabschiedete sich schnell und überließ es Wagner, der wieder das harmlose Gesicht eines einfachen dicken Weddemeisters aufgesetzt hatte, Marburgers Schreiber auszufragen. Wagner wusste sowieso besser, wie man das machte. Der beherrschte die seltene Kunst der wahrhaft Selbstbewussten, sich so dumm zu zeigen, dass sein Opfer alle Vorsicht vergaß.
Nie war Claes der Weg bis zum Millerntor länger vorgekommen. Alles, was die Stadt an Wasserträgern, Wäscherinnen und Straßenhändlern mit ihren dicken Körben, gemächlich flanierenden Spaziergängern, streunenden Hunden und sperrigen Kutschen und Fuhrwerken zu bieten hatte, schien sich heute auf den Straßen herumzutreiben, nur um ihn aufzuhalten.
Als er endlich das Tor passierte, zweifelte er, ob es nicht doch besser wäre, zuerst mit Christian zu reden. Ganz sicher hatte Wagner ihm den Grund genannt, warum er ihn, Claes, so eilig suchte. Und ganz sicher saß Christian nun im Kontor und grübelte, was zu tun sei. Hoffentlich tat er das. Womöglich war er verrückt genug, auf sein Pferd zu springen und nach Altona zu reiten, um seiner geliebten Lucia in dieser schweren Stunde die Hand zu halten. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, sein Sohn möge so klug sein, wie er dachte, und als genau in dem Moment ein violetter Blitz grell am Himmel über Altona zuckte, hoffte er, dass das kein Zeichen für weiteres Unheil war. Es war nun mehr als genug geschehen. Und dann ärgerte er sich, dass er auf solche Zeichen doch noch hereinfiel. Dabei, das hatte er im Vorbeireiten bemerkt, stand der Kometenbeschwörer nicht einmal mehr an seinem Platz auf dem Großneumarkt. Auf dem kleinen Podest aus Steinen hatte er nur den blinden Leierspieler gesehen. Und dann ärgerte er sich, dass seine Gefühle und Gedanken nichts als ein großes Durcheinander waren, und sorgte sich plötzlich um Anne, die von alledem noch nichts wusste und bei einem aufziehenden Gewittersturm allein mit einem Mädchen und einem Pferdejungen in Harvestehude war.
Donner grollte dumpf und von ferne nach, und Claes zügelte die Stute. So konnte er Gunda nicht begegnen. Erst musste er sich beruhigen und seine Gedanken sortieren.
Wie
sollte er ihr entgegentreten? Als alter Freund, der ihr beistehen wollte? Als Christians Vater, der für seinen Sohn bitten wollte? Gewiss hatte sie den Streit in der letzten Nacht gehört. Sie konnte doch nicht glauben, dass sein freundlicher Sohn ihren Mann getötet hatte?
Langsam ritt er weiter, zwei Schwalben schossen nur wenige Handbreit über dem trockenen Gras nahe an ihm vorbei. Die Wolken über dem Horizont hatten sich seit dem Morgen fast schwarz gefärbt, die Luft war schwer und klebrig wie in den Trockenkammern der Zuckerbäckereien, die Elbe, bleiern und schwarz wie der Himmel, lag immer noch öde. Nur ein kleiner Ewer mit gerefftem Segel wurde von zwei Männern mit der Strömung nach einer der Elbinseln hinübergewriggt. Möwen flogen mit gierigen Schreien in engen Runden um das Boot. Offenbar waren die Männer Fischer, die ihren Fang heimbrachten.
Er war nun ruhiger, aber die Erregung hatte einer drückenden Verzagtheit Raum gegeben. Als van Witten ihm auftrug, Marburgers Tod zu untersuchen, hatte er sich gefühlt wie ein Junge vor seiner ersten Jagd. Dabei hatte er vergessen, dass er die Jagd nie gemocht hatte. Nun war aus dem Spiel tatsächlich eine mörderische Hatz geworden, und er wusste nicht mehr, ob er zu den Jägern oder zu den Gejagten gehörte.
Die Palmaille lag still, nur eine alte Kutsche rollte ratternd und quietschend auf der breiten Straße mit ihren vier stolzen Baumreihen stadtauswärts. Ein dürrer rotbrauner Hund sprang ihr kläffend nach.
Claes band seine Stute an den Eisenring neben dem
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