Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Versuchen einen Seemannssprung zu vollführen, Vater schwamm bereits weit draußen im Wasser, und ich war zu feig, ihm hinterherzuspringen, doch aufgeben wollte ich auch nicht. Dann kam Mutter mit einem großen Frotteehandtuch, legte es mir um die Schulter, begann mich sanft abzutrocknen und drückte mich an ihren Körper, um mich zu wärmen. Dankbar ließ ich es geschehen, erlöst von meinem Ehrgeiz, Vater zu zeigen, dass ich mich nicht so schnell geschlagen gab. Sie blieb neben mir, bis Vater wieder kehrt machte, dann für eine Weile unter Wasser verschwand und vor uns mit einem breiten Grinsen prustend wieder auftauchte.
Als Mutter nach der Abendtoilette zufrieden aus dem Bad humpelte, breitete ich die mitgebrachten Photographien auf dem Nachtkästchen aus. Sie sagte, sie sei noch zu angeregt vom Tag und könne noch nicht schlafen. Im Bett, mit einem Berg von Kissen im Rücken, griff sie nach einem Stoß Bilder und breitete sie vor sich auf der Decke aus. Aufnahmen von unserer Hausgemeinschaft in London, die mir die Möglichkeit gaben, etwas von Phillip und dem Hund zu erzählen. Auf einer Aufnahme war ich mit Theo an meiner Seite zu sehen, sie war aufgenommen in der Zeit der Schwangerschaft, während der ich fast zwanzig Kilogramm zugenommen hatte. Nach ein paar heiteren Bemerkungen zu Theos Schlappohren, die auf der Aufnahme lustig in der Luft schwebten, wurde sie dann mit einem Mal still, betrachtete lange mein Gesicht, das heiter und gelöst in die Kamera blickte. Zunächst verstand ich gar nicht, warum sie innehielt, bis mich ein Schreck durchfuhr, und ich mich rasch darum bemühte, ihre Aufmerksamkeit auf eine andere Photographie zu lenken, auf der sie selbst im Garten in London die Rosen schnitt. »Nein, lass, das hat schon seine Richtigkeit.« Bevor ich etwas sagen konnte, blickte sie mich von der Seite an und fasste meine Hand, die ich ihr nicht entzog, sondern in der ihren liegen ließ, und fühlte den sanften Druck ihrer kühlen Finger.
Bergen-Enkheim Juni 2011
Gestern war ich mit Lena im Dorf, ein nasskalter Tag. Der Sommer hat lange auf sich warten lassen, dachte ich mir, geschützt durch den grünen alten Regenmantel, den ich früher zum Wandern in den Bergen getragen hatte, wenn die schweren Tropfen auf offener Wegstrecke niederprasselten. Oft bin ich mit diesem Umhang an glitschigen Felswänden entlanggestreift oder steile Bergwiesen hinabgeschlittert, mit müden Beinen und schmerzenden Zehen einer rettenden Almhütte oder einem Dorf entgegen. Dieser Mantel erinnert mich an die Zeiten, als ich noch in der Lage war, stundenlang zu marschieren ohne richtig müde zu werden. Das liegt lange zurück, in den Dreißigerjahren mit Onkel Heinrich, später mit Max, dann mit den Naturfreunden und dann allein auf meiner letzten Wanderung, als ich im Salzkammergut am Rande einer Almwiese den Mantel als Unterlage ausbreitete, darübergelegt die Jacke und über die Stirn einen Stoffhut gegen die Sonne, ganz dem Summen der Bienen und Hummeln hingegeben. In solchen Momenten war ich mit mir selbst und der mächtigen Natur beschäftigt, die ich intensiv wahrnahm. Besonders die Woche in den Bergen um Altaussee habe ich genossen. Als ob ich es geahnt hätte, dass sich meine Gesundheit bald verschlechtern würde, habe ich jede Stunde dort ausgekostet, oben auf der Terrasse des Berggasthauses, mit Blick auf die entfernten Gipfel im klaren Blau und am Ufer des Sees, dessen ruhiges Plätschern mich in einen seligen Nachmittagsschlaf begleitet hat, als ich auf einem Holzsteg beim Hotel lange in den Himmel und auf den Wald geblickt habe. In einem kurzen Moment, als Lena auf dem Spaziergang durch Enkheim neben mir im strömenden Regen unter einem Vordach innehielt, fiel mir eine Wanderung aus früheren Tagen wieder ein. Mit Max hatte ich am Rand einer steilen Schlucht unter einem Felsvorsprung vor einem Gewitterschauer Schutz gefunden, und Max klemmte meinen Umhang mit zwei Stöcken vor die Felsen wie eine Zeltplane, unter der wir fröstelnd, aber wohlig geschützt hervorlugten, aneinandergedrängt in einer Nähe, die wir sonst kaum zueinander gesucht hatten. Im Alltag bevorzugte jeder von uns für sich seine eigene Ecke in der Wohnung, Lena mit Vorliebe auf dem Balkon oder im Hof, dorthin zog sie sich mit Beginn des Gymnasiums häufig mit einem Buch zurück. Max fand seine Zuflucht im kleinen Kabinett, wie wir es nannten, wo er einen klappbaren Tisch hatte, an dem er unter dem Lichtkegel der Schreibtischlampe verschiedene
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