Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
Reparaturen ausführte. Der winzige Raum war vollgestopft mit Vorräten, Haushaltskram und Kartons. Oft saß er dort hinter aufeinandergestapelten Schachteln, in denen er Land- und Postkarten oder Plakate sammelte. Besonders hatten es ihm Exemplare aus den Jahren um die Jahrhundertwende angetan, aus einer Zeit, in der die Welt noch unversehrt von den beiden Kriegen war.
Lena hat mich gestern den ganzen Tag begleitet, mit wasserdichtem Hut, Trenchcoat und Knickerbocker nach altem Stil, die mich an Max erinnert hat. Gelenkig wich sie Passanten aus und hat mich mit meinem Rollstuhl um Hindernisse herumgelotst, die ihr sonst sicher nicht aufgefallen wären. Es ist das erste Mal, dass wir in dieser Art gemeinsam unterwegs sind. Im Rollstuhl bin ich kleiner als sie, und ich habe den Verdacht, ich bin auch freundlicher geworden, dankbarer, wenn sie sich meinem Tempo anpasst. Offensichtlich habe ich meine Tochter unterschätzt, habe ihr nicht zugetraut, dass sie sich auf eine unaufdringliche Art um mich kümmern könnte, unkompliziert und ungekünstelt. Viele Jahre hatte ich mir gewünscht, Lena würde in meiner Nähe wohnen und wir könnten uns öfter sehen, miteinander Dinge erleben, die nicht überschattet wären von der Zeit nach Maxens Tod. Wie oft hatte ich daran gedacht, wie es wohl sein würde, wenn wir gemeinsam Marmelade einkochen, wilde Pfefferminze für Tee zum Trocknen auslegen würden oder einen kleinen Ausflug miteinander machten. Sie würde dann wie früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, einfach da sein. Ich erinnere mich daran, wie wir morgens in den Schulferien zum Schwimmen gegangen sind oder in die Bibliothek, um uns wieder für die nächsten Wochen mit Lesestoff einzudecken. Das sind die unbeschwerten Momente, die wir gemeinsam verlebt haben, es war die Zeit lange vor Lenas Pubertät. Später zog sie sich dann zurück, nicht nur vor mir, auch vor Max. Meist hockte sie hinter ihren Büchern und lernte, manchmal lief sie auch mit ihrem Zeichenblock umher, um nach Motiven in der Umgebung zu suchen, die sie mit wenigen Bleistiftstrichen skizzierte.
Während des Spaziergangs versuchte ich, Lena zu schildern, wie man hier im Dorf früher gelebt hatte, und ich war kurz versucht gewesen von einem »wir hier« zu reden. Ich hatte Lena nicht viel über meine Kindheit erzählt. Vielleicht hatte ich diese Geschichten gemieden, um nicht etwas herbeizusehnen, das es seit dem Tod meiner Eltern nicht mehr gab. Lena und ich waren zuerst in den Sträßchen von Enkheim unterwegs gewesen, dann sind wir den Hügel hinauf nach Bergen, dort die Hauptstraße entlang und wieder einen anderen Weg hinunter bis zum Volkshaus. Gleich in der Nähe steht noch immer das selbstgebaute Haus meiner Eltern »An der Leuchte«, ein Straßenzug, der früher nicht stark befahren war. Die Umgebung hat sich gänzlich verändert, inzwischen sind fast achtzig Jahre vergangen. Meine Eltern und ich hatten dort nur ein paar Monate gelebt. Sie hatten mit eigenen Händen Ziegel für Ziegel aufgetürmt und ich sehe mich im Schlepptau der Mutter, die Vater in einem Blechtopf mit Henkel die Suppe zum Abendbrot bringt. Er würde sie essen, wenn er mit seinem Kollegen in der Dämmerung eine Pause machte und zufrieden auf die Mauern blickte, die er trotz seiner Rückenschmerzen in die Höhe hatte wachsen lassen.
Lena und ich kamen am Gartentor von Tante Frieda vorbei, ich getraute mich aber nicht zu klingeln, denn ich hatte keine Lust, fremden Menschen lange zu erklären, wonach ich suchte. Ich wollte nicht als sentimentale Alte im Rollstuhl angesehen werden. Vielleicht hätte jemand erzählen können, wann Tante Frieda gestorben war und wer das Haus jetzt besaß. Vielleicht waren die Bewohner Verwandte von mir, aber was hätte es an meiner eigenen Fremdheit hier geändert und worin lag schon die Bedeutung, blutsverwandt zu sein. Niemand hatte je in Wien bei Onkel Heinrich und Tante Else nachgefragt, wie es denn der kleinen Marga ginge, ob sie Heimweh habe und ob sie nicht Lust habe, in den Schulferien Zeit in Enkheim zu verbringen. Aber vielleicht habe ich meinen Angehörigen Unrecht getan, und Tante Else hatte solche Einladungen hintertrieben. Vielleicht hatte sie Angst davor gehabt, in den frühen Dreißigerjahren jemandem aus der Familie Unterschlupf gewähren zu müssen. Von einem Schwager meiner Mutter hatte es geheißen, er sei gegen die Nazis gewesen und untergetaucht, weil er vor Verfolgungnicht sicher war.
Die Häuser in den schmalen
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