Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
einen Platz führen, von dem er aus sicherer Position auf das Geschehene blicken und sich davon verabschieden konnte. »Versuchen Sie zu beschreiben, was jetzt geschieht, damit ich Ihnen helfen kann. Was machen Sie gerade?« Die Stimme des Arztes wurde noch eindringlicher, er hatte sich im Sitzen aufgerichtet, die Notizen hatte er zur Seite gelegt, seine Hände stützte er mit gespannten Sehnen, die sich unter der Haut seines Handrückens hervorwölbten, auf die breiten Holzarmlehnen des Sessels, er beugte sich nach vorn, um Max näher zu sein.
Draußen auf der Straße zwischen den Klinikgebäuden fuhr ein Lastwagen mit knatterndem Dieselmotor vorbei, dessen Geräusch durch die alten, schlecht schließenden Fenster drang. Hinter der gepolsterten Türe zum Flur ertönte das Rattern der harten Räder eines Rollwagens auf den Fliesen, das auf ihm gestapelte Geschirr klapperte. Der Lärm würde erst vergehen, wenn Wagen und Schwestern nach mehrfachem Halt vor den Türen hinten am Ende des Ganges angelangt sein würden, wo sie vom Personal der Spülküche bereits erwartet wurden. Keiner der beiden Männer nahm etwas von diesen Geräuschen wahr, ließ sich durch den normalen Lauf der Welt mit seinem Geschepper ablenken, das den Alltag einer Station der psychiatrischen Klinik begleitete. Max begann leise zu stöhnen, dazwischen presste er flach Worte aus seinem Mund, kaum hörbar: »… wieder Schüsse, ich stürme um die Hausecke auf den Platz, schieße, schieße …« Nur ein dünner Strich des bleichen Lippenrots war noch sichtbar, die Spitze eines Schneidezahnes, der sich in die Haut bohrte, die Fingerknöchel waren weißlich gelb, die Falten dazwischen angespannt, nichts sollte mehr aus ihm heraus nach außen dringen, kein Wort des Todes, das Blut, das er sah, sollte das Bild nicht verlassen, und er sah das Blut des alten Greises, der versuchte sich aufzurichten und der durch einen Kopfschuss hingestreckt wurde, mit zerfetzter Stirn sank er auf den Boden zurück. Sein Traum sollte nicht überquellen vom Blut der Kinder, die sich in den Falten der festlichen Tracht der Mutter verkrochen hatten, nicht überquellen vom Blut, das aus den fleischigen Wunden des Mannes rann, der mit zerschossenen Beinen an einer Hausmauer lehnte und gellend schrie, nicht vom Blut des Mädchens, dessen weißes Kleid mit hellroten Flecken übersät war und das sich mit blutverschmierten Händen die Augen bedeckte.
»Beschreiben Sie mir, was Sie sehen, ich bitte Sie.« Der Arzt war aufgestanden, er schrie Max an, rüttelte ihn an den Schultern, nachdem er sich bereits eine Weile über ihn gebeugt hatte, schüttelte ihn so lange, bis Max die Augen aufriss, ihm starr ins Gesicht sah und zu stammeln begann. »Wir haben alle erschossen, Alte, Frauen, Kinder, eine Hochzeitsgesellschaft, festlich gekleidete Leute, den Geistlichen, alle, bis alles still war, ganz still, kein Laut, ich habe geschossen, ich habe die Verwundeten erschossen, habe den Rest erledigt, den das Maschinengewehr übrig gelassen hatte, keine Partisanen, alles zu spät, alle tot, Frauen und Kinder, der Pfarrer, die Alten, tot, alle tot.« Max begannen Tränen über die Wangen zu laufen, während er weiterstammelte, unzusammenhängend mit weit aufgerissenen Augen, die er starr auf den Arzt gerichtet hatte, der sich wieder in seinen Stuhl setzte, zurücklehnte, die kurz zuvor noch lebendige Miene war jetzt ausdruckslos, leer. Der Arzt wusste, es war falsch gewesen, den Traum hier zu unterbrechen, es war gefährlich, den Patienten herauszureißen, was würde das für ihn bedeuten, welche Folgen müsste er erwarten? Er würde seine Notizen mit dem Professor besprechen, würde sich Rat holen. Er hätte es wissen müssen, nicht der Autounfall, wie er gedacht hatte, beschäftigte seinen Patienten. Er würde den Fall neu beschreiben, seine These revidieren müssen. Immer die Männer mit ihrem Krieg, mit dem er nichts mehr zu tun haben wollte. Sein Vater hatte am Mittagstisch vom Hunger in der Gefangenschaft erzählt, wenn er als Junge nicht essen wollte, hatte von den verbrannten Dörfern und Feldern erzählt, die von den Russen selber verwüstet worden waren, um der Wehrmacht nichts zu hinterlassen auf ihrem Marsch nach Moskau. Dieser Krieg, der ständig unter der intakt anmutenden Oberfläche zum Vorschein kam. Er musste diesen Mann wieder beruhigen, herausholen aus seinem Kampf. »Wann sind Sie denn aus Griechenland zurückgekehrt?« Max sah ihn verständnislos an, versuchte zu
Weitere Kostenlose Bücher