Der Sommer hat lange auf sich warten lassen - Roman
unteren Drittel mit weißen Kacheln verkleidet waren, mit leiser Hand die Türklinke nach unten drückte, den Raum betrat, und mit einem verhaltenen, leicht gekünstelten Hüsteln auf sich aufmerksam machte.
Ob sie bereits eine Stunde oder erst zehn Minuten in derselben Haltung vor dem toten Körper gestanden war, konnte Lena nicht sagen. Sie sah die Hände ihrer Mutter auf dem weißen Tuch ruhen, dann zaghaft die Rechte an der Wange des Vaters entlangstreichen, sanft, um sie gleich wieder zurückzuziehen, verschämt, als der Arzt mit ruhiger Stimme erklärte, sie würde in den nächsten Tagen, spätestens Freitag, über das Ergebnis der Obduktion und den Zeitpunkt verständigt werden, wann die Bestattung stattfinden könne. Draußen warte bereits der Wagen, der Leichnam würde gleich abgeholt, er müsse sie leider ersuchen, zu gehen, er bitte vielmals um Entschuldigung. Lena starrte abwechselnd auf den Arzt, die Mutter und das Gesicht des Vaters, sie wollte sich nicht zur Eile drängen lassen aber sie sagte nichts, ihre Lippen waren fest verschlossen, sie bemerkte, wie krampfhaft sie ihre Kiefer aufeinanderpresste. Diese Weihnachten würde sie den Christbaum, den sie sich wieder gewünscht hatte, ohne den Vater schmücken. Lena trat einen Schritt zurück, als sie die vorsichtig suchende Berührung der Mutter bemerkte, sie wollte ihre Hand in diesem Moment von der ihrer Mutter nicht umschließen lassen, zog ein Taschentuch aus der Manteltasche, führte es mit beiden Händen zur Nase, um sich zu schnäuzen, und trat vor ihrer Mutter über die Schwelle des Totenzimmers in den Gang hinaus, dessen Fenster die Sicht auf schwarzgliedrige Bäume und ein dahinterliegendes tristes Klinikgebäude mit abblätterndem, grauem Putz freigaben. Erste Schneeflocken hingen am Himmel, schwebten tänzelnd an den Scheiben entlang, vor denen Lena stehen blieb und ins bleierne Weiß mit warmen Tränen in den Augen, die sie zu verbergen suchte, nach oben blickte. Der letzte Winter fiel ihr ein. Der erste weiße Flaum auf den Bäumen im Hinterhof. Sie hatte sich neben Vater auf die Couch im Wohnzimmer gesetzt, der mit offenen Augen an die Wand starrte. Um ihn abzulenken, hatte sie mit dem Finger zum Fenster gezeigt und gesagt, »Papa, schau, es schneit«.
Bergen-Enkheim Juni 2011
Zuerst konnte ich Mutter am Bahnsteig nirgends finden und wollte bereits die nächsten Waggons abschreiten, um dort nach ihr Ausschau zu halten. Plötzlich hörte ich ihre Stimme im lauten Getümmel und im Quietschen der Bremsen des Zuges, der langsam auf dem gegenüberliegenden Gleis zum Stillstand kam. Ich war überrascht, Mutter im Rollstuhl zu sehen, sie strahlte über das ganze Gesicht. Ich beugte mich zu ihr hinunter, wollte sie begrüßen, und sie sagte mir, ich solle ihr nicht böse sein. Nach dem ersten Erstaunen versuchte ich meine Unsicherheit zu verbergen, Mutter war offensichtlich in guter Laune und Verfassung. Dass sie im Rollstuhl saß, nahm ich zunächst einmal zur Kenntnis, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Wir würden trotzdem das Wochenende gut miteinander verbringen. Ich konnte mir zwar nicht verkneifen, sie mit einem »Mama, Du bist doch immer für eine Überraschung gut« in die Arme zu schließen, und bemerkte, dass sie versuchte, mich länger als sonst festzuhalten. Das war ich von ihr nicht gewohnt, denn seit Vaters Tod hatten wir uns kaum noch berührt. Mutter war nach meinem Empfinden schuld an seinem Suizid gewesen, und ich habe es ihr unmittelbar nach dem Abschied von Vaters Leichnam im Totenzimmer der Klinik unverblümt gesagt. Darauf hat sie mich angeschrieen, ich solle meinen dummen Mund halten und mir eine heftige Ohrfeige versetzt. Mutter und ich standen uns im Park der Baumgartnerhöhe gegenüber, schweigend, entsetzt, beide mit stockendem Atem, es fiel kein Wort, bis ich mich langsam umdrehte und wegging. Sie versuchte, mich daran zu hindern, hielt meinen Arm, doch ich konnte mich aus ihrem Griff lösen und lief in den immer dichter werdenden Schneefall davon. Ich hatte sie nicht einmal während der Beisetzung der Urne umarmen wollen. Jagbauer hatte am offenen Grab eine Rede gehalten, die mich traf, weil sie Vaters Eigensinn beschrieb, und er ließ ihm auch seine Würde bei seiner letzten Entscheidung. Mit dieser Entscheidung war ich ganz und gar nicht einverstanden, denn Vater hatte sich in meinen Augen aus meinem Leben gestohlen. Ab diesem Zeitpunkt konnte ich Mutters Nähe nicht mehr ertragen, ergriff immer die Flucht, wenn
Weitere Kostenlose Bücher