Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
an.«
»Also nicht für mich?«
Frank ging hinunter in den Keller und blieb bis tief in der Nacht in seinem Büro. Die Wut legte sich nicht. Sie wuchs. Er hatte Steve die Chance genommen, wieder aufzuwachen. Jemand musste dafür büßen. Er schrieb ein einziges Wort ins Protokoll: Chaos. Er musste Ordnung in diese Dinge bringen. Früher oder später musste er das.
Zuerst wurde der Grabstein entfernt. Er war widerspenstig wie ein Backenzahn, aber zum Schluss gelang es ihnen mit Trecker und Ketten doch, ihn aus dem Mund der kalten Erde herauszuziehen und in die Müllanlage zu verfrachten, wo Marmor, Buchstaben und Jahreszahl zu Staub zermahlen werden sollten. Dann war der Sarg an der Reihe. Da entstand ein kniffliger Konflikt. Einige meinten, es genüge, einen neuen Stein mit dem korrekten Namen zu errichten, also Marion Perkins. Der Sheriff und der Arzt gehörten zu dieser Gruppe. Sie wollten diese Sache so schnell wie möglich aus der Welt geschafft haben. Wobei sich der Sheriff übrigens ungeschickt ausdrückte. Er sagte, er wolle einen Deckel auf die ganze Geschichte legen. Es war so einfach, die falschen Worte zu benutzen, weil nichts richtig war. Die Worte mussten abgewogen werden, das kleinste Gramm war von Bedeutung. Marions Eltern widersetzten sich jedoch diesen Plänen. Sie verlangten, dass der Sarg ausgegraben werde, damit ihre Tochter ein würdiges Begräbnis bekam, nicht so eine Maskerade, wie die Kommission vorgeschlagen hatte. Im Grunde genommen war sie ja nie beerdigt worden. Sie lag wie ein blinder Passagier da. Der Pfarrer musste herbeigerufen werden, krankgemeldet oder nicht. Das war nicht nur eine praktische Frage, hier handelte es sich auch um Theologie. Schließlich kam der Pfarrer, bleich und mager, und er gab den Eltern recht. Marion sollte in bescheidener, aber dennoch korrekter Form zu Grabe getragen werden. Die heiligen Worte mussten zurückgenommen und von Neuem verkündet werden. Er sprach ein Gebet für Marions erschöpfte Seele und für alle erschöpften Seelen in Karmack. Sie öffneten das Grab des Nachts, um keine große Aufmerksamkeit zu erregen. Was jedoch wenig half. Die Aufmerksamkeit war bereits erweckt. Wie sehr man sich auch bemühte, den Skandal herunterzuspielen, so hatten die Gerüchte, dass diese beiden Mädchen verwechselt worden waren, sich bereits seit langem verbreitet, nicht nur in Karmack, sondern auch im Rest des Landes. Alle wollten mehr wissen. Es strömten Journalisten, Reporter, Fotografen, Anwälte, Schaulustige und alle Art von Pack in die Stadt. Hätte man nachgezählt, wie viele sich in diesen Tagen in Karmack befanden, hätte man mindestens hundert auf dem Schild an der Stadtgrenze dazuzählen müssen. Alle wussten, das war nicht von Dauer, doch für eine kurze Weile sah es tatsächlich nach einem Aufschwung aus. Der Aufschwung war aufgrund eines makabren Irrtums gekommen. Das Hotel öffnete, um die Zugereisten zu beherbergen. The Record brachte eine Extraausgabe mit den jüngsten Neuigkeiten in dem Fall. Bei Smith’s Diner brummte es von morgens bis abends. Im Majestic zeigte man alte Filme, damit die Leute mal auf andere Gedanken als nur Leben und Tod kamen. Die Straßenlaternen wurden angezündet. Ganz Karmack lag in diesen kurzen Tagen vor Weihnachten im Scheinwerferlicht. Und immer wieder musste die Kommission erklären, wie es möglich gewesen war, so einen Fehler zu begehen. Und ebenso oft antworteten sie auf die gleichen Fragen. Die Mädchen hatten ihre Jacken getauscht. Und wenn nicht einmal die Eltern sie unterscheiden konnten, ihre eigenen Töchter, wer denn dann? Niemandem war ein Vorwurf zu machen. Niemandem ist ein Vorwurf zu machen, dachte Frank. Nie gibt es jemanden, dem man einen Vorwurf machen kann. In der Nacht, als der Sarg aus dem schwarzen Loch heraufgeholt wurde, stand er auf dem Friedhof. Entlang des Zauns und vor der Pforte hatten sich Leute versammelt, Einwohner und Fremde, Kameras klickten und rissen blaue Narben in den dünnen Schnee. Warum wollte niemand mit ihm reden? Seiner Meinung nach hatte er zumindest das verdient. Schließlich war er doch jedes Mal dabei gewesen, mit all dem Schmerz, den die Situation mit sich brachte. Stattdessen kam Bob Spencer zu ihm. Er hatte beim Graben geholfen. Er brauchte das Wenige, was er für diese Plackerei bekam, jetzt, wo es nicht so viel bei Clintstone zu tun gab. Andere Unfälle ließen nämlich auf sich warten. In Karmack gab es neben dieser unglückseligen Verwechslung keinen Platz
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