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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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nicht. Sie war ganz still. Denn sie wollte diesen Moment für sich haben. Sie wollte ihn allein erleben. Denn das, von dem alle gesagt hatten, es sei unmöglich, der Arzt, ihr feiger Mann, die Nachbarn, die ganze Drecksstadt, war doch möglich. Ihre Tochter war nach sieben Wochen der Reise im Niemandsland zurückgekehrt.
    »Ja, meine Liebe. Ich bin hier. Alles wird …«
    »Mutter«, wiederholte das Mädchen. »Wo ist Mutter?«
    »Hier, mein Schatz, hab keine Angst.«
    Das Mädchen versuchte sich aufzusetzen, hatte aber nicht genügend Kräfte.
    »Warum sind Sie hier?«, fragte sie.
    »Ich bin die ganze Zeit hier gewesen, mein Schatz. Alle …«
    »Ich will nicht, dass Sie hier sind.«
    »Schon gut. Du bist müde und verwirrt, Marion. Alles wird …«
    »Marion? Wo ist Marion?«
    »Du bist Marion, mein Schatz. Und wir sind im Krankenhaus. St. Mary’s Hospital.«
    Das Mädchen versuchte sich wegzudrehen, aber die Kabel und Schläuche hielten es fest, wie sehr es auch zerrte und zog.
    »Ich will nicht, dass Sie hier sind, Mrs Perkins.«
    Und langsam wurde der getreulichen Mrs Perkins klar, dass es nicht ihre Tochter war, die hier lag. Das hier war Veronica, die beste Freundin. Und dann musste es Marion sein, ihre Marion, die tot war und auf dem Friedhof lag mit dem falschen Namen auf dem Grabstein. Mrs Perkins wankte auf den Flur hinaus und schrie wie ein Tier, herzzerreißend und wild, bevor sie auf die Knie sank und den Verstand verlor. Wie hatte das geschehen können? Neugeborene waren früher schon mal vertauscht worden, und es war auch vorgekommen, dass jemand im falschen Sarg landete. Aber das? Eine Tote und eine Lebende zu verwechseln? Dann stellte sich heraus, dass alles an einer Jacke lag, einer ganz normalen Lederjacke, die Marion so gut gefallen hatte und die sie sich deshalb von Veronica geliehen hatte, als sie auf den Schienen balancierten, während Veronica Marions Kapuzenpullover übergezogen hatte. Die beiden gesichtslosen Mädchen hatten also nur ihre Kleidung getauscht. Mehr steckte nicht dahinter. Alles musste nun neu aufgerollt werden. Und zwar schnell. Die Gerüchte verbreiteten sich bereits, bevor der Arzt Mrs Perkins noch eine Beruhigungsspritze gegeben und sie in einem eigenen Zimmer untergebracht hatte.
    Dem Sheriff war natürlich sofort klar, dass es Probleme geben würde. Die Kommission stand in Gefahr, lächerlich gemacht zu werden. Jetzt ging es nur um Schadenbegrenzung, und deshalb musste schnell gehandelt werden. Frank sollte bitte schön derjenige sein, der Mr Perkins über die Geschehnisse unterrichtete, schließlich war er dort auch das erste Mal gewesen, als alle davon ausgegangen waren, Marion hätte überlebt, und die Mutter angefangen hatte, an Wunder zu glauben. Berichten zu können, dass die Tochter tot war und dass sie das die ganze Zeit schon gewesen war, würde ein würdiger Abschluss einer ansonsten unwürdigen und verzwickten Sache sein. Doch stattdessen war es der Sheriff, der zu Mr Perkins fuhr, um ihm zu erzählen, dass seine Tochter aufgewacht war, aber leider ein Irrtum passiert war, ein Missverständnis, es war nämlich nicht seine Tochter Marion, die da aufgewacht war, sondern Veronica, mit anderen Worten war es Marion, die auf dem Friedhof beerdigt worden war. Ob er das verstand? Mr Perkins weigerte sich. Zuerst hatte er sich geweigert zu glauben, dass seine Tochter jemals wieder aufwachen würde. Jetzt weigerte er sich zu glauben, dass die Tochter tot war. Und er war in vollem Recht. Wer würde schon so etwas glauben? Hat meine Frau sich das ausgedacht?, fragte er. Der Sheriff musste es noch einmal erzählen. Die Mädchen hatten die Jacken getauscht. Deshalb dieses tragische Missverständnis. Mr Perkins fing an zu lachen. Er saß auf dem Sofa mit Weihnachtsschmuck auf dem Schoß, den Kopf in den Händen und lachte, lachte, dass er sich schüttelte, und ab und zu murmelte er etwas, so unnötig, so unnötig . Der Sheriff ließ Mr Perkins in Ruhe, bis er keine Kräfte mehr hatte und das Wehklagen von allein endete, in einem Seufzer, der die große Sinnlosigkeit an diesem Tag in Karmack fast gänzlich in sich aufnahm. Der Sheriff hätte selbst gern in das Jammern und das Seufzen eingestimmt. Es war so unnötig, so unnötig. Niemand hatte so etwas verdient.
    Frank seinerseits sollte Mr und Mrs Mills über die neuesten Ereignisse informieren. War es eine gute Nachricht? Kam er mit einer Freudenbotschaft? Gab es in dieser hoffnungslosen Angelegenheit, die trotz allem, ob

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