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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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etwas, das alles kaputt machen konnte. Immer gab es da einen Knüppel zwischen den Speichen. Sollten etwa die Hausfrauen vom Nordkap bis nach Lindesnes mein erster Leserkreis sein? Sollte mein Gedicht, Zwischenzeit. Die Uhren am Drammensveien, in »Kvinner og Klær« abgedruckt werden zwischen Rezepten, Horoskopen und Anzeigen für Vaseline, Watte und Tupperware? Ich musste im Augenblick der Tat, als ich das Gedicht abschickte, unzurechnungsfähig gewesen sein. Ich musste es zurückhalten, koste es, was es wolle. Ich musste den verantwortlichen Redakteur anrufen und sagen, dass ich das Gedicht augenblicklich zurückziehe. Aber es war Sonntag, und an einem Sonntag kann nichts aufgehalten werden, außer Gottesdiensten, Andachten und vielleicht ich.
    »Du bist ulkig«, sagte Heidi.
    Dann nahm sie mein Milchglas und trank daraus. Sie trank aus dem gleichen Glas wie ich. War das eine Einladung, ein Zeichen dafür, dass ich in dieser Angelegenheit etwas tun konnte, sollte, etwas darauf erwidern durfte? Erwartete sie etwas? Sie bekam zwei kleine weiße Flügel in den Mundwinkeln. Ich sammelte alle meine Kräfte, beugte mich über den Tisch vor und wischte sie vorsichtig ab, und sie schloss die Augen, während ich das tat. Ihre Lippen waren weich. Ich hatte noch nie zuvor die Lippen eines Mädchens berührt. Da offenbarten sich die Tanten.
    »Jetzt reicht es!«, rief Tante Carlik. »Es ist offenbar an der Zeit, dass die junge Dame nach Hause geht.«
    Heidi stand auf und knickste vor allen vieren. Ich stand auch auf, vermied es aber, einen Diener zu machen. Tante Emilie stieß mir dafür einen Knöchel in die Schulter.
    »Und du kannst sie bis zur Pforte begleiten, dann umkehren und zurückkommen!«
    Ich wollte mich nicht mit ihnen streiten. Ich begleitete Heidi den Weg hinunter, und wir erstickten fast vor Lachen. Mein Fuß erschien mir plötzlich so leicht. Hatten mich die Tanten nicht eigentlich im letzten Moment gerettet? Ja, das hatten sie. Denn ich hatte keine Ahnung, was ich mit der Hand hätte tun sollen, nachdem ich die Finger von Heidis Lippen genommen hatte. Wir blieben an der Pforte stehen. Ich öffnete sie. Die Scharniere quietschten. Mir gefallen Türen und Pforten, die quietschen, und Treppen, die knarren. Dann hört man, wenn jemand kommt, und kann sich darauf vorbereiten. Und man hört, wenn jemand geht. Heidi blieb stehen.
    »Die sind ja süß«, sagte sie.
    »Du kannst sie gern für ein paar Tage ausleihen.«
    Dann sagten wir eine Weile gar nichts mehr. Diese Weile erschien länger als Weilen sonst zu sein pflegen, und ich hätte sie gegen keine anderen Weilen in dieser Welt oder der nächsten getauscht. Ich wusste nur zu gut, dass die Tanten auf der Terrasse standen und sich um das Fernglas prügelten, um besser sehen zu können und nichts zu verpassen. Das gönnte ich ihnen. Sie waren im Kino und sahen einen Stummfilm.
    »Was hat Lisbeth angestellt, dass sie gleich Stubenarrest gekriegt hat.«
    »Bier getrunken. Ihr Vater hat das von Land aus gesehen.«
    »Und du? Hast du auch Bier getrunken?«
    »Ein bisschen. Einen Schluck.«
    »Aber du hast keinen Stubenarrest?«
    Heidi schüttelte nur den Kopf.
    »Ich habe Angst um sie.«
    »Angst um Lisbeth? Warum das? Dass sie dir etwas tun könnte?«
    »Nein. Natürlich nicht. Dass sie sich selbst etwas antun könnte.«
    Und da sagte ich das Dümmste, was ich bisher gesagt hatte.
    »Und warum bleibst du dann? Warum fährst du nicht einfach ab?«
    »Das ist nicht so einfach.«
    »Wieso nicht?«
    »Sie ist meine Freundin, nicht wahr? Ich muss mich doch für sie einsetzen.«
    »Natürlich.«
    »Wollen wir einmal zusammen schwimmen gehen?«
    »Natürlich, das machen wir.«
    »Bei den Badeschuppen ist es schön. Dann kannst du dich auch ein bisschen sonnen. Tschüs, Funder.«
    Heidi lief den Kiesweg hinunter. Ich wartete, bis ich sie nicht mehr sehen konnte und der Staub sich gelegt hatte. Dann ging ich zurück zum Haus, glücklich und beschämt. Ja, nach allem zu urteilen war ich ein böser Mensch. Ist es möglich, böse und glücklich zugleich zu sein? Sich für jemanden einsetzen. Wann hatte ich mich das letzte Mal für jemanden eingesetzt? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Aber ich konnte mich auch nicht daran erinnern, die Chance gehabt zu haben, mich für jemanden einzusetzen. Ich hatte nie die Chance bekommen, gut zu sein, und deshalb beruhigte ich mich damit, dass ich fast glücklich war und nicht ganz böse. Emilie, Massa und Carlik gingen ihres Weges, den

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