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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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letzten Song vom Grand Prix pfeifend, nicht, dass ich beim Grand Prix zuhörte, aber es war nicht zu vermeiden, dieses Lied zu hören, oj, oj, oj, så glad jeg skal bli , und das pfiffen sie in Moll. Tante Soffen blieb währenddessen im Schatten auf der Terrasse sitzen und säuberte ihr Hörrohr.
    »Da hast du ja ein richtig nettes Mädchen gefunden, Christian. Très belle. Sie ähnelt mir, als ich jung war.«
    Das hätte sie nicht sagen dürfen. Ich hätte mir wirklich gewünscht, dass Tante Soffen das nicht gesagt hätte. Das hätte sie sich schenken können. Jetzt musste ich mit Bildern kämpfen, die ich mir gern erspart hätte, denn ich hatte weder die Kraft noch genügend Fantasie, um mir vorzustellen, wie Soffen wohl aussah, als sie die Schönste in Oslo gewesen war, das damals Kristiania hieß.
    »Aber du darfst nicht blindlings lospreschen. Wenn du um sie werben willst, musst du vorsichtig und ritterlich vorgehen und dich in Acht nehmen. Man stolpert so leicht.«
    Ich weiß nicht, ob Tante Soffen von Erfahrungen oder Träumen sprach. Auf jeden Fall war ich der Meinung, dass es nun reichte, tätschelte ihr die Wange und stand auf. Aber sie hatte noch mehr auf dem Herzen.
    »Du hast ja ein schönes Vorfach an deiner Dose. Wenn du den Haken abmachst, kannst du den Blinker fast als ein Schmuckstück benutzen. Aber dann musst du ihn vorher gut waschen und vielleicht ein bisschen mit Parfüm einsprühen.«
    Ich bedankte mich für den Vorschlag, machte eine Runde um mich selbst und dann um das Haus herum, wo Tante Emilie den Hintern in die Sonne reckte und Unkraut zupfte. Ich versuchte ungesehen vorbeizukommen, dieser Tag war bereits bis an den Rand gefüllt, aber es gelang mir nicht. Sie richtete sich auf.
    »Der Karpfen ist der Fisch, der am längsten noch auf dem Land leben kann«, sagte sie.
    »Aha. Gut zu wissen.«
    »Ja, das stimmt.«
    »Gibt es deshalb keine Karpfen mehr hier im Teich?«
    »Was für ein Quatsch. Die haben das Wasser ausgetrunken.«
    Tante Emilie zupfte weiter die Läuse aus dem Gras, und ich ging weiter, nur um direkt auf Tante Carlik zu stoßen, die auf dem Abtritt gewesen war, leicht zu erkennen an der Rolle Klopapier in ihren Händen, die sie eigenhändig aus der Stadt mitgebracht hatte und die sie auf keinen Fall mit den anderen teilen wollte. Es gab keinen Weg drumherum. Auch sie hatte etwas auf dem Herzen. Es musste ansteckend sein.
    »Hast du gewusst, dass die Post jedes Jahr 25 000 Briefe verbrennen muss, weil die Adresse nicht deutlich geschrieben ist! Sie sind einfach unzustellbar!«
    »25 000? Das sind viele.«
    »Viele? Das sind 25 000 zu viel! Es ist eine Schande, dass die Leute nicht deutlich genug schreiben können!«
    Tante Carlik setzte ihren Weg fort, mit der Klopapierrolle in der einen Hand und dem Stock in der anderen, ich aber blieb stehen und fragte mich, was ich mit all dem anfangen sollte, Grand Prix in Moll, tote Karpfen und verbrannte Briefe, konnte ich das gebrauchen, all das, was ich nie wieder loswerden würde, denn nachdem ich es erst einmal gehört hatte, wurde ich es nicht mehr los – konnte ich damit etwas anfangen? Und würde es den Tag geben, an dem es keinen Platz mehr gab, an dem das Gehirn einfach vollgestopft und der Schädel für alle Zeiten geschlossen war? Und was dann? War das nicht gleichbedeutend mit Sterben? Übrigens war das Schlimmste daran, dass man sich nicht aussuchen konnte, was man zu hören bekam. Ich stand unter Dauerbeschuss. Ich wurde angefüllt, ohne mich leeren zu können. Ich hätte einen Burggraben um mich herum ausheben sollen. Ich musste in den Obstgarten gehen, um meine Gedanken zu sammeln. Dort saß Tante Massa im Gras hinter dem Rhabarber, der Anblick war äußerst sonderbar. Sie ähnelte einem viel zu großen, in Gedanken abwesendem Kind in einem weiten blauen Kleid, oder einem Buddha. Ich wagte mich näher heran. Ihre beiden Hände waren rot. Blutete sie? Hatte Tante Massa sich selbst Verletzungen zugefügt? Hatte sie Fingernägel gekaut? War sie von wütenden Erdwespen gestochen worden, dort, wo sie saß? Ich wagte mich noch näher heran.
    »Tante Massa«, flüsterte ich. »Ich bin’s.«
    Zum Schluss schaute sie lächelnd auf. Sie war also nicht schwer verletzt. In ihrem Schoß lag ein schöner Strauß langer gelber Blumen. Ich setzte mich neben sie ins Gras.
    »Deine Hände«, sagte ich, »sie sind rot.«
    »Hypericum!«
    »Wie bitte?«
    »Hypericum! Echtes Johanniskraut. Versuch mal. Reib es zwischen den

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