Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
an?«
»Ich glaube, den Lateinzweig gibt es nicht mehr, Soffen. Sonst hätte ich den natürlich gewählt.«
»Dann hast du nur eine Wahl, Christian. Französisch! Das ist entschieden!«
»Französisch? Wieso das denn?«
»Wieso? Meine Güte, Junge. Du bist ja wohl derjenige, der ein Hörrohr braucht.«
»Okay. Was habe ich nicht mitgekriegt?«
»Französisch ist die Muttersprache der Poesie. Baudelaire. Rimbaud. De Gaulle. Und wie sie alle heißen.«
»Ich glaube, de Gaulle ist Präsident. Und General.«
Tante Soffen schüttelte den Kopf und stand auf. Ich musste ihr das letzte Stück helfen. Sie war kleiner, wenn sie stand, als wenn sie saß.
»Ich interessiere mich nicht für Politik. Und du auch nicht. Ist noch Kuchen übrig, Funder?«
Ja, ich liebte diese Tanten und war überzeugt davon, dass sie nie geboren worden waren. Sie waren einfach. Sie waren als fertige Tanten vom Himmel gefallen. Wenn die Astronauten es schafften, auf dem Mond zu landen, dann war es nicht unwahrscheinlich, dass sie dort den Ursprung der Tanten finden könnten.
Aber sie erschöpften dich. Sie nahmen Besitz von dir und besaßen dich, solange sie da waren. Am Sonntagmorgen saß ich deshalb erschöpft auf der Terrasse mit dem Fernglas und einem Glas Milch, während die Tanten die Flagge hissten und sich über die schäbige Stange mokierten und nicht zuletzt über den ungepflegten, faulen Taugenichts, der nicht einen Finger krümmte, um vier hilflosen Tanten zu helfen, also über mich. Da hörte ich jemanden kommen und fasste Mut. Mutter würde mich ablösen. Ich konnte die Wache verlassen. Doch es war nicht Mutter. Ich hob das Fernglas und schaute. Es war Lisbeths Freundin, Heidi. Sie schloss die Pforte hinter sich und kam den schmalen Pfad entlang. Ich schraubte sie näher heran. Sie trug enge Shorts mit Fransen, sicher eine Jeans, der sie einfach die Beine abgeschnitten hatte. Ich konnte sogar ihren Bauchnabel sehen, weil das weiße T-Shirt, das sie trug, ziemlich kurz war. Ich wurde ganz wirr im Kopf. Was machte sie hier? Natürlich hätte ich ihr entgegengehen sollen, aber ich kam nicht vom Stuhl hoch. Die Tanten dagegen ließen alles, was sie in den Händen hatten, fallen, das heißt die Flagge, und plötzlich war ich von ihnen umringt. Sie waren genau wie die Hummeln, nur summten sie noch lauter.
»Wer ist das, Christian? Wer ist das?«
»Das ist ein Mädchen.«
»Das können wir auch sehen. Wir sind vielleicht schwerhörig, aber blind sind wir noch nicht! Ihr Name!«
»Heidi«, murmelte ich.
»Woher kommt sie?«
»Sie ist eine Freundin der Tochter vom Amtsrichter.«
Jetzt näherte Heidi sich mir. Unbekümmert spazierte sie geradewegs in meine Welt, als gehörte sie hierher. Ich wusste mir nicht zu helfen. Tante Soffen benutzte das Hörrohr für mich.
»Ich werde euch im Auge behalten. Nur dass du das weißt!«
Die Tanten glitten durch die Stubentür, ohne sie zu öffnen. Sie waren nicht aus Fleisch und Blut. Sie waren wie Geister in langen, geblümten Kleidern. Heidi blieb an der Treppe stehen.
»Hallo«, sagte sie.
Ich tat so, als sähe ich sie erst jetzt. Und dann musste ich noch so tun, als hätte ich keine Ahnung, wer sie war. Das war ziemlich viel auf einmal.
»Worum geht es?«, fragte ich.
»Störe ich dich?«
»Ob du mich störst? Nein, nicht, dass ich wüsste. Du bist doch die Freundin von Lisbeth, nicht wahr?«
»Sie hat mir gesagt, dass du hier wohnst.«
»Ja. Im Sommer, meine ich. Wo ist sie?«
»Sie hat Stubenarrest.«
»Dann ist sie also nicht hier.«
»Sind da Karpfen im Teich?«
»Nein. Aber es sind Hummeln im Rhododendron.«
Heidi lachte, kam hoch und setzte sich. Eine Weile saßen wir einfach nur da.
»Ich heiße übrigens Heidi«, sagte sie.
»Funder«, sagte ich.
»Funder ist ein schöner Name.«
»Wenn du es sagst. Ja, über den Namen Heidi kann man sich eigentlich auch nicht beschweren.«
»Bist du allein hier?«
»Hier sind noch 62 Tanten. Aber momentan sind sie unsichtbar.«
Wieder lachte Heidi. Ich war also lustig. Es gefiel mir, sie zum Lachen zu bringen.
»Spionierst du?«, fragte sie.
»Ob ich was?«
Sie zeigte auf das Fernglas. Nun war ich mit Lachen an der Reihe.
»Ich studiere die Hummeln. Von denen gibt es auch 62. Für jede Tante eine.«
»Vielleicht können wir den Mond ansehen, wenn sie dort landen«, sagte Heidi.
Sie sagte wir. Wir, das waren wir beide. Sie machte Pläne, von denen ich ein Teil war. Ich hatte richtig gehört. Sie rechnete mit mir. Das
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