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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Fingern!«
    Tante Massa gab mir eine der Blumen, also von dem Johanniskraut, und ich tat, was sie gesagt hatte, ich rieb die gelben Blütenblätter zwischen den Fingern, und wahrlich, langsam aber sicher wurden sie rot. Das war etwas. Das war wirklich etwas für mich. Gelb, das rot wurde.
    »Wie kriege ich das wieder ab?«
    »Das geht von allein ab, Christian. Aber das ist nicht alles. Du kannst es auch trinken, das Johanniskraut.«
    Fünf Sommer lang hatte Tante Massa nicht so viel gesagt. Vielleicht begann sie deshalb auch in Zungen zu reden.
    »Unser Herr hat nämlich ein großes Geheimnis in dieses Kraut gelegt, um die Geister und Fantasien zu besiegen, die die Menschen an den Rand der Verzweiflung treiben.«
    Sie hatte sogar eine Tasse dabei, halb mit Wasser gefüllt. In dieses bröselte sie gelben Staub und rührte ihn mit dem Finger um. Dann bekam ich es zu trinken.
    »Hypericum!«, sagte Tante Massa.
    Ich leerte die Tasse mit einem Zug.
    Nach einer Weile wurde ich noch durstiger, aber Tante Massa hatte nichts mehr zu trinken dabei. Ich ließ sie dort im Gras sitzen und ging zum Brunnen, schob den Deckel zur Seite, fierte den Eimer hinunter, ließ ihn kippen und zog ihn wieder hinauf. Als ich mich über das Wasser beugte, um direkt aus dem Eimer zu trinken, war da wieder das Gesicht, nicht das gleiche wie letztes Mal, sondern ein anderes, ein fremdes, das grinste, das mich frech angrinste. Ich versuchte es wegzuschütteln, aber immer wenn ich glaubte, es los zu sein, kam es zurück, sobald das Wasser sich beruhigte. Da gab es nur eins. Ich steckte den ganzen Kopf in den Eimer und trank das fremde Gesicht aus.
    Die Leiter stand immer noch dort. Ich erklomm sie in zwei Sätzen und ließ mich wieder auf dem Dach nieder. Ulkig. Was hatte sie damit gemeint? Dass ich ulkig war? War ulkig sein etwas Gutes? Oder hatte sie bereits meine Scharten entdeckt? Die Gedanken lagen in dicken Stapeln in meinem Kopf. Iver. Das Gewehr. Heidi. Der Mond. Die Post. Die Karpfen. Johanniskraut. Das Gedicht. Kvinner og Klær! Ich war kurz davor, vom Dachfirst zu fallen. Vielleicht hatte ich meine Karriere bereits in den Sand gesetzt, lange bevor sie gestartet war. Hatte ich tatsächlich das Gedicht an eine Zeitschrift geschickt, die unsere Mütter abonnierten? Ich bekam kaum noch Luft. Je mehr in meine Welt eindrang, um so enger wurde sie. Habe ich das nicht immer schon gesagt? Bald gab es keinen Platz mehr für mich. Wenn ich etwas in dieser Geschichte hätte bestimmen können, dann hätte ich Vater sich sein Bein an einem Mittwoch brechen lassen, so dass ich allein bleiben würde, wenn Mutter in die Stadt führe, um ihn zu besuchen, denn die Tanten kamen nie an einem Mittwoch, immer nur an einem Samstag, andererseits hätte Mutter wahrscheinlich verlangt, dass ich mit ihr käme, da ich mich ja auch nicht um die Tanten hätte kümmern müssen, schließlich war es ein Mittwoch, und sie kämen nicht vor Samstag, aber angenommen, das hätte sie nicht, dann hätte ich das Haus für mich allein gehabt, und nicht nur das Haus, ich hätte meine eigene Welt ganz für mich gehabt, und dann hätte Heidi herkommen können, also am Mittwoch, nicht am Samstag. Und dann? Was dann? Was hätte ich dann getan? Ich war wie gesagt so etwas nicht gewohnt. Ich war nicht gut darin, mit Menschen zu verkehren. Ich hatte immer ein ungutes Gefühl dabei. Ich hatte Angst, sie zu langweilen. Ich war überzeugt davon, dass sie sich in meiner Gesellschaft langweilten. Es war meine Schuld. Vielleicht wäre ich doch mit Mutter in die Stadt gefahren, wenn Vater sich das Bein am Mittwoch gebrochen hätte, meine ich. Aber im Grunde genommen war es egal. Vater brach sich das Bein an einem Samstag, und an der Sache war nichts zu rütteln. Ein Tag folgt dem nächsten, wie es geschrieben steht. Das meiste kommt wie es kommt, aber erst, wenn seine Zeit gekommen ist, auch das steht geschrieben, und deshalb waren immer noch alle Möglichkeiten offen, wie Türen zu den verschiedenen Räumen, in denen ein Licht, dessen Ausmaß ich nicht kannte, wartete, und hinter mir wartete eine ebenso große Finsternis, aber mit der Finsternis war ich fertig, oder etwa nicht, die lag ja bereits hinter mir. Von allen Namen hatte ich mich für Funder entschieden. Funder war verliebt.

10
    M utter kam mit der Acht-Uhr-Fähre an, und die Tanten fuhren mit ihr ab, zurück in die braunen Wohnungen in der Stadt, wo sie bald still und friedlich zwischen Nippes und Kerzen sterben sollten, eine nach

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