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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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sie war rund und drall und hatte immer Kampferbonbons in den Taschen ihres hellblauen, geblümten Kleids, das von den üppigen Schultern bis zu den Waden reichte. Tante Soffen wiederholte jeden Sommer, sie sei früher das schönste Mädchen in Kristiania gewesen. Sich vorzustellen, dass dieser Mensch, der fast schon den Boden mit der Nase wischte und jedes Jahr mehr einer Rosine ähnelte, einmal die Schönste gewesen sein sollte, ganz gleich, wo und wann, war ganz einfach ein Ding der Unmöglichkeit. Das grenzte an das Unbegreifliche. Da haben sie dich aber ganz schön an der Nase herumgeführt!, rief ich dann immer in ihr Hörrohr. Dann brummte Tante Soffen mit einem hochgezogenen Mundwinkel, und wenn ich das Ohr an das Hörrohr legte, konnte ich hören, dass es irgendwo in ihrem Kopf rumorte, wo vielleicht ein Traum Form annahm oder eine schwache Erinnerung vorbeizog. Andererseits: Alle Rosinen sind ja einmal Trauben gewesen.
    Ich bekam den Haken los, und Tante Soffen kurbelte mich wieder auf die Erde hinunter.
    Nach Kaffee und Kuchen ging sie uns verloren. Wir waren einfach nicht in der Lage, sie zu finden. Tante Soffen war vom Erdboden verschwunden. Wir suchten überall. War sie in das Loch im Plumpsklo gerutscht? Lag sie leblos auf dem Grund des Brunnens? Versteckte sie sich im Rhododendron in der Hoffnung, dort ein bisschen Staub zu finden? Hatte sie sich verlaufen? Aber bei dem Tempo, das Soffen normalerweise drauf hatte, konnte sie ja nicht besonders weit gekommen sein, das immerhin könnten wir Mutter sagen. Ein Schaudern durchfuhr die drei Tanten, die noch an Ort und Stelle waren, eine Art Unwohlsein. Wir durchforsteten den Obstgarten – vergebens. Wir schalteten in der Dämmerung die Taschenlampen ein und suchten entlang des Zauns – genauso vergeblich. Wir riefen, auch ohne Erfolg. Außerdem war sie ja taub. Oder etwa nicht? Ich schaute in den riesigen Wäschekorb, der unter der Treppe stand, und in dem Platz für mehrere Soffens gewesen wäre. Auch dort war sie nicht, nur eine alte Windjacke, drei Kopfkissen, eine Schürze, Motten und ein Stapel Comics, den ich schon längst hätte wegwerfen sollen. Der Wilde Westen, Daffy Duck, Bugs Bunny und die Illustrierten Klassiker. Um zehn Uhr beendeten wir unsere Suche. Nun blieben nur noch die Heilsarmee und das Rote Kreuz. Tante Emilie war abergläubisch und sprach davon, ein Unglück käme selten allein. Unglücke rotteten sich zusammen. Sie sind zu feige, um einzeln aufzutreten. Zuerst dein Vater, und jetzt unsere Soffen. Passt nur auf! Gott ist heimtückisch heute Abend.
    »Komm raus, Soffen!«
    Ich war derjenige, der sie schließlich fand. Sie saß ganz einfach in meinem Zimmer, am Schreibtisch, krumm wie eine Klammer. Ich hätte wütend sein sollen, hier war der Zutritt für Unbefugte strengstens verboten, aber es gelang mir nicht. Wer konnte auf Tante Soffen wütend sein? Ich nicht.
    »Hier sitzt du also«, sagte ich.
    »Wie du siehst, Christian. Hier oben herrscht so eine gesegnete Stille.«
    »Wir haben dich gesucht.«
    »Das bräuchtet ihr doch nicht. Ich war ja hier oben.«
    Ich stutzte. Irgendetwas stimmte nicht. Mein Gehirn schien eine Haltestelle übersprungen zu haben. Ich trat einen Schritt näher.
    »Tante Soffen?«
    »Ja, was ist denn?«
    »Ich glaube, du hast dein Hörrohr vergessen.«
    »Deshalb musst du doch nicht so schreien!«
    Sie drehte sich lächelnd um.
    »Ich werde es auch niemandem verraten«, flüsterte ich.
    »Setz dich, Christian.«
    Ich setzte mich aufs Bett. Tante Soffen zeigte mit einem krummen, faltigen Finger auf die Schreibmaschine.
    »Was ist das?«
    »Der Titel für ein Gedicht, das ich schreiben will.«
    »Habe ich es doch gewusst.«
    »Aber ich bin nicht besonders weit gekommen.«
    »Du hast viel Zeit, Christian.«
    »Habe ich nicht. Ich habe keine Zeit. In sechzehn Tagen landen sie auf dem Mond.«
    »Du hast den Rest deines Lebens noch vor dir, Funder. Kümmre dich nicht drum, dass andere keine Zeit haben. Sieh mich an. Ich habe alle Zeit der Welt.«
    Ich wusste nicht so recht, ob das ein Trost war, aber es war trotzdem richtig schön, sich mit Tante Soffen ohne Hörrohr zu unterhalten. Der gekrümmte Finger wurde in meine Richtung gelenkt, und aus irgendeinem Grund erinnerte er mich an meinen Fuß. Wenn ich mit meinem rechten Fuß auf jemanden zeigen wollte, würde ich auch danebenliegen.
    »Im Herbst wirst du aufs Gymnasium gehen«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Für welchen Zweig hast du dich angemeldet? Latein, nehme ich

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