Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
noch nichts. Dieser Tag war sowieso eine einzige Prüfung. Ich fühlte mich plötzlich unerwünscht, was vielleicht auch nicht verwunderlich war. Trotz allem hatte ich ja bei meinem letzten Besuch Iver fast mit dem Gewehr das Leben ausgepustet. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das hier draußen auf Signalen nicht stimmte. Ich denke dabei nicht an die Wracks und den Müll, der überall verstreut lag. Es war etwas anderes. Ich konnte nicht genau sagen, was es war, aber ich habe einen Blick für so etwas, für Dinge, die nicht stimmen. Ich spürte eine Art Ungleichgewicht, etwas, das kippte, wie auf einem Schiff, wenn die Last sich verschiebt und es kurz vorm Kentern ist.
    »Meine Mutter«, sagte Iver, »kümmere dich nicht um sie.«
    Sie kam wieder heraus und hatte den gleichen Korb dabei. Jetzt war er voll mit dicken Brotscheiben und einem Glas mit Erdbeermarmelade. Sie blieb vor uns stehen.
    »Du bist also dieser Christian?«
    Ich streckte ihr die Hand hin, aber sie konnte sie nicht ergreifen, weil sie den Korb mit beiden Händen hielt.
    »Das mit dem Gewehr tut mir leid«, sagte ich.
    »Das hätte sowieso nicht dort liegen dürfen. Geladen. Das war nicht deine Schuld.«
    »Es tut mir trotzdem leid.«
    »Nimm lieber eine Scheibe Brot. Das ist selbst gebacken. Und dann vergessen wir das mit dem Gewehr.«
    Ich kann es nicht ausstehen, bei anderen Leuten zu essen, genauer gesagt, das Essen anderer Leute zu mir zu nehmen. Mit Mühe und Not kann ich eigenes Essen mitnehmen und woanders verzehren, auch wenn sich dazu nur äußerst selten die Gelegenheit bietet, aber das Essen anderer Leute? Nein, vielen Dank.
    »Vielen Dank«, sagte ich.
    Ich nahm eine Scheibe. Wie gesagt, ich bin höflich. Das ist erblich. Man kann an Höflichkeit sterben. Ich war bereit zu sterben. Die rote Marmelade lief mir über die Finger. Ich kaute und kaute, während Iver und seine Mutter mich aufmerksam beobachteten, und das ist das Schlimmste daran, wenn man das Essen fremder Leute essen muss, dass nämlich diejenigen, die es zubereitet haben, nicht einen einzigen Gesichtsausdruck, das leiseste Schmatzen versäumen wollen, sie möchten deine Begeisterung, deine Dankbarkeit messen können. Tränen pressten sich heraus. Der Schlund zog sich zusammen. Die Zunge suchte Schutz hinter dem Zäpfchen. Doch dann geschah etwas. Es ähnelte einem Wunder. Der Sinn von Brot erschloss sich mir. Ich kann es nicht anders sagen. Es war mehr als der warme, weiche Geschmack, mehr als die spröde Kruste, die im ganzen Körper einen Widerhall gab, es war mehr als nur satt zu werden. Der Sinn von Brot ging in mir in Erfüllung. Der Sinn von Brot bestand in mehr als der Sättigung. Es sollte einen anderen Hunger stillen. Es war eine gesegnete Mahlzeit. Ich nahm noch eine Scheibe. Ivers Mutter lächelte.
    »Alle nehmen noch eine Scheibe«, sagte sie.
    Schließlich musste mich Iver fast zum Anleger rollen, an dem Oksvald, der alte Seelenverkäufer, lag. Unser Plan lautete, dass ich von ihm aus anrufen sollte. Wir warteten, bis die Passagiere an Land gegangen waren. Dann gingen wir an Bord. Es war Hochwasser. Wir gingen die Gangway hinauf. Der Kapitän zählte uns. Ich erklärte ihm die Situation. Es ging um Leben und Tod. Mein Vater hatte sich das Bein gebrochen. Ein komplizierter Bruch. Er schwebte. Zwischen Leben und Tod. Ich musste telefonieren. Ich hatte Geld und konnte für mich bezahlen. Es eilte. Der Kapitän war viel mehr an der Frage interessiert, warum Iver Malt nicht angelte. Hatte der Schwarm draußen bei Steilene kehrtgemacht?
    »Quallen«, sagte Iver. »Die Quallen versperren den Weg.«
    »Es eilt«, wiederholte ich.
    »Ich entscheide, wann es eilt«, sagte der Kapitän.
    Er wartete noch ein Weilchen, warf einen Blick auf den menschenleeren Anleger und den letzten Bus, der einen Teppich aus Abgasen entlang dem Asphalt entrollte, kontrollierte die Zahl auf dem Zählapparat, Iver und ich, das waren immer noch zwei, bürstete sich ein Sandkorn von der Schulter der tadellosen Uniform, während die Zeit verging, und sie lief mir davon, schaute erneut auf seinen Zählapparat, als wäre es eine Uhr, und sagte endlich:
    »Du kannst anrufen. Aber beeile dich. Wir haben keine Zeit.«
    Am Kiosk wechselte ich den Fünfziger in vier Zehner, sechs Kronenstücke und acht Fünfzigörestücke und fand das Telefon in einer engen Kabine gleich neben dem Klo. Ich blätterte das Telefonbuch durch, vorbei an der Seite, auf der Vaters Name, Adresse und Nummer stand. Mutters

Weitere Kostenlose Bücher