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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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nicht. Es ist ziemlich dick, nicht wahr?«
    »Wenn du fertig damit bist, dann erzählst du mir, wie es gelaufen ist, nicht wahr?«
    »Warum gibst du das Buch weg, wenn du es noch gar nicht gelesen hast?«
    »Ich kann nicht lesen.«
    Ich nahm einen Zug, mir wurde noch schwindliger, und ich wusste nicht, ob ich recht gehört hatte.
    »Du kannst nicht lesen?«
    »Diese blöden Buchstaben bleiben einfach nicht ruhig stehen. Die ganze Zeit wechseln sie ihren Platz. Hol sie der Teufel!«
    »Vielleicht brauchst du eine Brille?«
    »Mit meinen Augen ist alles in Ordnung. Hat der Schularzt gesagt.«
    »Und was hat er noch gesagt?«
    »Dass ich dumm bin.«
    Ich zeigte auf einen Karton, in dem offenbar etwas Wertvolles war, denn es stand Vorsicht in großen Buchstaben auf dem Deckel.
    »Was steht da drauf?«, fragte ich.
    »Leck mich am Arsch. Jetzt bist du dran.«
    »Womit? Womit bin ich dran?«
    »Ein Geheimnis zu erzählen. Bist du auch dumm?«
    »Ich habe keins.«
    »Ich dachte, wir sind Freunde.«
    »Sind wir Freunde? Das wusste ich nicht.«
    Iver schien in sich zusammenzusinken, er sah aus wie ein verletztes Kind. Ich bereute, was ich gesagt hatte. So redete ich normalerweise nicht. Normalerweise redete ich den Leuten nach dem Mund. Normalerweise war ich mit allen einer Meinung, soweit es sich machen ließ. War es das Glück, das mich so gefühllos und unverwundbar machte, so überlegen und abweisend? Arbeitete das Glück so? Ich erinnerte mich an das, was Heidi gesagt hatte, als ich fragte, warum sie nicht einfach nach Hause fuhr, wenn sie Angst davor hatte, was Lisbeth alles anstellen konnte: Sie ist meine Freundin. Ich muss mich doch für sie einsetzen. Ja, ich war ein schlechter Mensch, wahrscheinlich durch und durch verdorben. Und ich fügte hinzu, unsicher und wenig überzeugend, soweit ich selbst hören konnte:
    »Aber jetzt weiß ich es. Dass wir Freunde sind, meine ich.«
    »Okay.«
    »Vielleicht kann ich dir mit den Buchstaben helfen?«
    »Gut.«
    »Und was ist dein anderes Geheimnis?«
    »Sag ich nicht.«
    »Dein Bruder? Ist er das Geheimnis?«
    Iver Malt richtete sich langsam auf und sah mich direkt an. Es war ein scharfer, schwarzer Strich in seinem Blick, der nicht so recht zu deuten war, aber er verhieß auf jeden Fall nichts Gutes.
    »Ich habe keinen Bruder. Also das kannst du schon mal vergessen.«
    »Deshalb brauchst du doch nicht wütend zu werden.«
    »Ich bin nicht wütend. Du hast mich noch nie wütend gesehen.«
    Ich habe keine Ahnung, warum ich immer noch weitermachte, statt einfach den Mund zu halten, aber ich machte weiter, konnte einfach nicht aufhören.
    »Also dann dein Halbbruder. Ist er das andere Geheimnis?«
    »Den kannst du auch gleich mal vergessen. Denn ich habe auch keinen Halbbruder.«
    Einen Moment lang fürchtete ich, er würde mir direkt eins in die Fresse hauen, machte einen Schritt zurück und stolperte über die Trosse, die zusammengerollt auf dem Deck lag, und ging geradewegs zu Boden. Iver stellte sich über mich.
    »Und ich weiß sowieso, was dein Geheimnis ist«, sagte er.
    »Da weißt du mehr als ich.«
    »Du hast eine Liebste.«
    Ich musste laut lachen.
    »Eine Liebste. So ein Schwachsinn. Keine Ahnung, wovon du redest.«
    »Das neue Mädchen. Die mit der Tochter vom Richter gekommen ist.«
    »Sie ist nicht meine Liebste.«
    »Doch. Sie ist deine Liebste. Und deshalb gibt es wohl keinen Platz mehr für mich. Oder?«
    Letzteres klang wie eine flehentliche Bitte. Oder? Seine Stimme war weich und fast nicht wiederzuerkennen. Ich kam auf die Beine und schaute woandershin, weil ich seinem bettelnden Hundeblick nicht begegnen wollte. Ich wollte ihn auch nicht wütend sehen, wenn ich denn die Wahl hatte.
    »Natürlich gibt’s den«, sagte ich, »Platz für dich, meine ich. Außerdem ist sie nicht meine Liebste.«
    Ich begann zu frieren. Im Schatten der Uferfelsen saßen blasse Kinder. Ich hörte verzerrte Musik von einem Plattenspieler mit ausgelutschten Batterien. Iver Malt holte tief Luft und hielt sie an.
    »Doch. Du weißt es nur noch nicht. Dass du eine Liebste hast.«

12
    I ch saß vor der Schreibmaschine und wartete, dass Heidi wieder auftauchte, und natürlich brachte ich nicht ein Wort zu Papier. Man kann nicht gleichzeitig warten und dichten, nicht einmal, wenn es das Gedicht selbst ist, auf das man wartet, verstehe das, wer kann, jedenfalls verstand ich es nach einer Weile. Der Monduntergang steckte fest. Das Papier begann zu vergilben. Die Sonne hatte es verwüstet.

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