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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Übrigens schrieb ich abends und nachts, nachdem ich Aufsätze korrigiert und mich für die Stunden am nächsten Tag vorbereitet hatte. Eines Morgens war ich richtig verfroren, als ich den Flur zum Klassenzimmer entlangging. Ich war sogar zu spät, was mir eigentlich gar nicht ähnlich sah. Ich hatte gerade eine Gedichtsammlung herausgegeben, und am Tag zuvor war sie unterschiedlich besprochen worden. Ein paar Rezensionen hatten mich wirklich getroffen. Da gab es Formulierungen, mit denen ich nicht leben konnte, und mit denen ich immer noch nicht leben kann: dass ich seicht war, dass ich fleißig und seicht war und nichts zu sagen hatte. Ich schleppte mich durch die leeren Flure, zwischen den Haken entlang, die mich in diesem Gemütszustand natürlich an eine Schlachterei erinnerten. Das Schlachtvieh kehrt zurück zum Tatort. Ich hatte also einen Kater und war verfroren. Dazu fleißig und seicht. Ich wiederholte immer und immer wieder den Satz, der mich die ganze Nacht wach gehalten hatte: Das nächste Mal werde ich tief und faul sein. Ich konnte ihn bereits singen. Und vielleicht sang ich ihn sogar vor mich hin, denn plötzlich ging die Tür zum Physikraum auf, und Studienrat Gundersen schaute heraus. Voller Scham senkte ich den Kopf, ging schneller, fand das Klassenzimmer, und das Erste, was ich bemerkte, als ich endlich an meinem Platz hinter dem Pult angekommen war, war die Stille. Nicht, dass sie sonst besonders laut waren oder Blödsinn machten, wie gesagt, seit den Apfelsinen hatten wir eine gemeinsame Ebene gefunden. Aber diese Stille war etwas anderes, etwas ganz anderes. Sie kaschierte etwas, ein Geheimnis, etwas, von dem die Schüler wussten, ich aber nicht. Sofort war ich auf der Hut. Wie ich schon früher gesagt habe, ich mag keine Überraschungen. Ich möchte, dass alles ganz normal abläuft. War ich in eine Falle getappt? Es war kaum noch auszuhalten, und ich hatte auch nicht die Kraft, zum Gegenangriff überzugehen. Ich wartete nur auf die große, unsichtbare Apfelsine. Wie lange es dauerte? Ich weiß es nicht. Wollten sich die Schüler auf diese Art an mir rächen, weil ich zu spät zur Stunde gekommen war, wollten sie mich mit gutem Benehmen ärgern? Mit Stille? Aber diese jungen Gesichter, sie waren nicht mehr als fünf, sechs Jahre jünger als ich, und trotzdem lebten sie ein anderes Leben, ihre Gesichter waren jung und unbeholfen, und ich war nicht in der Lage, an diesem Morgen irgendwelche bösen Absichten in ihnen zu entdecken, nicht den geringsten Unfug, nur Erwartung. Dann hielt es auch die Klasse nicht länger aus. Einer der Jungs stand auf, es war übrigens der gleiche, der damals die erste Apfelsine geworfen hatte, er zeigte auf mich, oder genauer genommen an mir vorbei. Und weil das aus dem Blickwinkel der Klasse nicht zu helfen schien, gaben sie auf. Sie ließen sich auf die Pulte fallen, seufzten, stöhnten und riefen alle durcheinander: Sehen Sie doch! Ich drehte mich um und sah. Auf die Tafel hatten die Schüler ein Kamel in einem großen Herzen gemalt, und darunter stand: Herzlichen Glückwunsch, Dichter Funder! Wir sind stolz auf dich! Sie nannten mich auch Funder. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte, wie ich damit umgehen sollte. Ich war verlegen und ging auf den Flur hinaus. Dort lehnte ich die Stirn an einen Haken und begann zu weinen. Ich war der Lehrer, der auf dem Flur stand und vor Glück weinte. Die Schüler hatten mich hinausgeschickt. Die Schüler hatten mich auf den Flur geschickt, damit ich vor Freude weinte. Dann nahm ich mich zusammen, ging wieder hinein, und jetzt war die Stille eine andere, sie war schwer und gesättigt, fast träge, denn diese unbeholfenen Schüler hatten begriffen, welch Ernst in so einer Anerkennung lag. Sie hatten mich anerkannt. Dann klingelte es zur Pause, und der Rest meines Lebens konnte beginnen. Noch im gleichen Herbst beendete ich meine Arbeit als Lehrer und wusste, dass meine Mutter an diesem Vormittag in der Küche recht gehabt hatte, als ich 20 war und alle Brücken hinter mir abreißen und verbrennen wollte. Derjenige, der einfach nur die Brücken verbrennt, geht selbst in Flammen auf. Und der Dumme verbrennt die Brücken, bevor er über sie gegangen ist. Die Klasse im Gymnasium Grefsen im Herbst 1980 war meine Brücke, mein Übergang zu der Gesellschaft gewesen, in der ich bis zum heutigen Tag, an dem ich hier sitze und schreibe, tätig bin: Diese Klasse wurde meine Freiheit.
    Warum sagte ich ihr nicht, dass sie, meine

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