Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
zumindest sang sie nicht, als ich das letzte Stück lief, die Treppen hinauf, aufschloss, ich hatte also immer noch einen Schlüssel, und Mutter in der Küche vorfand, wo denn sonst, und ihr den Brief gab. Lies!, sagte ich. Ich reiße alle Brücken hinter mir ab!, sagte ich, während sie den Brief las. Sie werden abgerissen und verbrannt! Sie gab mir den Brief zurück. Ich bin stolz auf dich, sagte sie. Richtig stolz. Augenblicklich fiel mir ein, als gäbe es eine Art Regel dafür, dass ich derjenige gewesen war in dem Sommer damals, der genau das zu ihr hätte sagen sollen, dass ich stolz auf sie war. Habe ich meine Mutter jemals gefragt, wie es ihr ging? Wozu sie Lust hatte? Nie. Ich reiße alle Brücken hinter mir ab, wiederholte ich. Verbrenne sie. Diese untauglichen, falschen Sätze hatten sich in mein Gehirn eingeprägt. Warum?, fragte Mutter. Warum? Warum! Siehst du nicht, was da steht? Ich bin angenommen worden! Ich bin stolz auf dich, wiederholte Mutter. Aber beende auf jeden Fall zuerst dein Studium. Dazu habe ich keine Zeit! Doch, Funder. Du hast genug Zeit. Und schreiben kannst du auch nachts. Ich lachte laut und lief in der Küche hin und her, in der Küche, in der Mutter für sich gedeckt hatte, die gelbe Teetasse, das grüne Brettchen, die Serviette im Silberring, Johannisbeermarmelade in einer blauen Schale, zwei Scheiben Brot und eine Scheibe Knäckebrot, das Vormittagsessen, die heilige Mahlzeit der Hausfrau. Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest!, rief ich. Doch, das habe ich. Ich weiß sehr genau, wie wichtig es ist, frei zu sein. Diese Worte von ihr verblüfften mich, ja, sie schockierten mich. Was meinst du damit? Frei? Mutter drehte sich zum Fenster hin um. Die höchsten Bäume im Robsahmpark gegenüber waren gefällt worden, und deshalb erfüllte die Sonne den ganzen Raum, die Küche, die das Büro der Mütter in der schwerfälligen Fabrik der Familie war. Jetzt stand Mutter in ihrem Büro in einer Fabrik, in der die Produktion eingestellt worden war. Ein Ruck durchfuhr sie, ich konnte es sehen, eine Lawine, die nur eine Sekunde lang dauerte, vielleicht noch weniger, aber es schien, als hätte sich ihr ganzes Leben gelöst, wie ich mir einbildete, bevor sie sich aufrichtete, tief einatmete, das Geröll einsammelte und in einer einzigen Bewegung ihr Leben freilegte. Es war Frühling. Ich wurde im Mai ein Schriftsteller. Frei? Was meinst du? Ich meine nur, sagte meine Mutter, dass du von niemandem abhängig sein sollst. Beende dein Studium und werde nicht abhängig. Erst dann kannst du dich richtig entscheiden. Verstehst du, was eine dumme alte Frau sagt? Ja, ich verstand es. Ich verstand, was eine dumme alte Frau sagte. Sie war damals zehn Jahre jünger als ich es jetzt bin. Und das meiste, was ich kann, lernte ich genau dort, im Innersten der Fabrik der Wohnung. Frei sein heißt, dass du fertig wirst. Frei sein heißt, etwas zu vollenden. Soll ich für dich mitdecken?, fragte Mutter. Oder hast du keine Zeit, jetzt, da du Schriftsteller geworden bist? Wir lachten. Aber klar, sagte ich. Der Schriftsteller hat Hunger.
Das Buch kam heraus. Die Welt blieb die gleiche. Ich beendete mein Studium und arbeitete eine Weile als Lehrer, nicht sehr lange, an einem Gymnasium im Norden Oslos, ich unterrichtete Norwegisch und Geschichte. In der Zwischenzeit schrieb ich mehrere Bücher, das heißt einen Roman und zwei Gedichtsammlungen, mit einer davon war ich sogar zufrieden, zumindest mit dem Titel, es fällt mir auf, dass ich meistens am zufriedensten mit den Titeln bin, das Kamel in meinem Herzen. Am ersten Morgen, als ich in die Klasse kam, deren Klassenlehrer ich sein sollte, und in der ich Norwegisch unterrichten wollte, bekam ich eine Apfelsine direkt ins Gesicht. Ich sah, wer sie geworfen hatte, machte aber keine große Sache daraus, ich hatte es ja überlebt, trotz allem, und ich dachte, dass ich mir vielleicht Respekt verschaffte, wenn ich so tat, als hätte es diese Apfelsine nie gegeben. Was wohl falsch gedacht war. Es wurden mehrere Apfelsinen. Aber nach einer Weile fanden wir eine Ebene, die Klasse und ich. Ich mochte die Schüler. Und sie gewöhnten sich an mich. Wir vereinbarten eine Art Waffenstillstand, und damit konnten wir alle leben. Vielleicht war es also doch nicht so falsch gedacht, das mit der Apfelsine, die es gar nicht gegeben hatte. Ich muss eingestehen, dass ich versuchte, ein Gedicht über Apfelsinen zu schreiben, die es nicht gibt. Aber das wurde ein ganz schlechtes Gedicht.
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