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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Iver Malt eine Münze. Am liebsten wäre ich auf dem Grund des Brunnens versunken und würde dort zusammen mit all meinen Gesichtern liegen bleiben. Iver Malt arbeitete doch nicht für uns! Iver Malt sollte keine Entlohnung bekommen! Iver Malt sollte kein Trinkgeld bekommen! Wollte Mutter ihn jetzt etwa einstellen? Jetzt war er auf dem Weg zu mir. Ich versteckte das Buch unter dem Liegestuhl, schloss die Augen und tat, als schliefe ich und hätte nichts gesehen.
    »Deine Mutter ist nett.«
    Ich öffnete die Augen und gähnte laut.
    »Ach, hallo Iver. Bist du das?«
    »Zahl oder Kopf?«
    »Ist mir egal.«
    »Du musst schon sagen. Sonst geht es nicht.«
    »Zahl.«
    »Kopf.«
    Iver schnipste das Geldstück in die Luft, es drehte sich immer höher hinauf, in dem starken Licht glänzend, und einen Moment blieb es da oben ruhig stehen, hochkant, Zahl und Kopf, bevor es Iver direkt in die Hand fiel. Er klatschte die Münze auf den anderen Handrücken, wartete kurz, hob die Hand und warf einen Blick drauf.
    »Zahl«, sagte er.
    »Ja, und?«
    »Du hast gewonnen.«
    »Und was?«
    Iver zuckte mit den Schultern.
    »Ist doch gleich. Du hast jedenfalls gewonnen. Nur das zählt.«
    Ich wurde nicht schlau aus Iver Malt, und ich hatte auch nicht vor, es zu werden. Er lehnte sich mit der Schulter gegen den Fahnenmast und pulte ein paar Farbschuppen ab, die er sich in die Tasche steckte.
    »Warum trägst du keine Schuhe?«, fragte ich.
    »Darum.«
    »Warum darum?«
    »Weil ich keine Schuhe brauche.«
    »Alle tragen Schuhe.«
    »Die Indianer nicht. Weißt du, was die Indianer gesagt haben?«
    »Ugh.«
    »Die haben gesagt, dass du barfuß gehen musst, um nicht von der Erdkugel runterzufallen.«
    »Runterfallen?«
    »Es gibt direkt unter der Erde Magneten, nicht wahr? Sonst wären wir schon längst runtergefallen.«
    »Ich bin noch nicht runtergefallen.«
    »Noch nicht. Du solltest auch mal versuchen, barfuß zu laufen.«
    »Ich bin noch nicht runtergefallen«, wiederholte ich.
    »Ich habe gehört, was du gesagt hast.«
    »Machst du dich über meinen Fuß lustig?«
    »Über welchen?«
    »Über welchen? Natürlich über den rechten.«
    »Ich sehe da keinen Unterschied.«
    Ich gab ihm das Fernglas und hob die Füße hoch.
    »Siehst du jetzt einen Unterschied?«
    Doch Iver Malt schaute mich gar nicht an. Er drehte sich in einem langsamen Kreis, lächelte dabei. Dann blieb er schließlich stehen und zeigte zum Plumpsklo.
    »Dein Fahrrad«, sagte er.
    »Krieg das Schloss nicht auf.«
    »Was für ein Schloss denn?«
    »Ein Zahlenschloss.«
    Wir gingen dorthin, oder genauer gesagt, ich folgte Iver Malt dorthin.
    »Hast du den Code vergessen?«
    »Ist der gleiche wie meine Körperlänge.«
    Iver schaute mich lange an.
    »Vielleicht bist du seit dem letzten Mal gewachsen«, sagte er.
    »Ja und?«
    »Du bist größer geworden, nicht wahr?«
    »Ja und?«
    »Dann brauchst du einen neuen Code. Bist du doof?«
    Mir wurde von Iver Malts Logik ganz schwindlig. Das war logisch und der reinste Wahnsinn. Natürlich brauchte ich einen neuen Code. Ich war seit dem letzten Sommer größer geworden als der alte Code. Kein Wunder, dass er nicht funktionierte. Nichts stimmte mehr. Er wühlte in den Taschen seiner kurzen Hose und fand etwas, einen Nagel, Draht, was weiß ich, denn er hockte sich mit dem Rücken zu mir hin, und im Laufe von Nullkommaungefährnichts bekam er das Schloss auf. Ich hörte das herrliche Klicken, das die Dinge an ihren Platz fallen lässt, und spürte eine tiefe Befriedigung, als wäre es meine Handfläche, die das Schloss berührte.
    »Wie hast du das geschafft?«
    »Sag ich nicht.«
    »Nun red schon, mach keinen Scheiß.«
    »Sag ich nicht. Sonst wirst du noch den Rest deines Lebens Fahrräder klauen.«
    »Red nicht. Sag es. Vielleicht vergesse ich den Code ja wieder.«
    »Dann schließ es nicht ab. Ist auch gut.«
    »Vielleicht klaut es dann einer.«
    »Wer sollte das denn sein? Ich?«
    »War nicht so gemeint.«
    Iver Malt blieb einen Moment schweigend stehen, das Fernglas baumelte um seinen Hals.
    »Bist du fertig?«, fragte er schließlich.
    »Womit?«
    »Moby Dick.«
    »Noch nicht. Aber …«
    Er ruderte mit den Armen und unterbrach mich.
    »Sag nichts! Sag nichts, bevor du fertig bist! Sag nichts!«
    Er wollte das Fernglas abnehmen, und jetzt war ich an der Reihe, ihn zu unterbrechen.
    »Du kannst es behalten«, sagte ich.
    »Behalten? Das Fernglas?«
    »Ja. Genau das habe ich so ungefähr gesagt.«
    Iver Malt ließ das Fernglas

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