Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
langsam wieder an Ort und Stelle fallen, lächelte auf eine merkwürdige Art, fast beschämt. Dann verschwand er zwischen den Kiefern und den Ameisenhügeln, hinter der Hecke und unter der Erde, über den Zaun und in der Mulde, hinauf zu den Briefkästen und bis hin nach Signalen. Er verduftete. Noch heute zweifle ich daran, wenn es der Fall ist, dass ich von Zweifel überfallen werde, dann zweifle ich daran, ob dieser Sommer überhaupt stattgefunden hat, oder ob es ihn nur in meiner Erinnerung gibt, in meiner eigenen Welt, eine Verzerrung von Zeit und Raum, an die sich niemand außer mir erinnern kann.
13
E s kam vor, dass Mutter draußen auf der Terrasse unter der blauen Markise saß und sang, besonders morgens, wenn sie annahm, dass sie als Einzige aufgestanden war, aber ich hörte sie trotzdem. Auch in der Stadt sang sie, während des restlichen Jahres. Ein paar Mal, wenn ich von der Schule früher nach Hause kam, ich schwänzte nicht, wahrscheinlich war ein Lehrer krank geworden und keine Vertretung aufzutreiben, dann konnte ich bereits unten auf der Treppe meine Mutter singen hören, und dann blieb ich bei den Briefkästen stehen und lauschte ihren Liedern, und sie erfüllten mich mit einer großen Erleichterung und gleichzeitig mit einer Unruhe, die im gleichen Atemzug Zweifel und Kummer ähnelte, ohne dass ich zu der Zeit exakt diese Worte schon benutzen konnte, um zu beschreiben, was ich fühlte. Diese Worte sind ausschließlich einem Rückblick vorbehalten, aber wenn ich zum jetzigen Zeitpunkt des Schreibens, wie man sagt, im Moment des Schreibens, klüger bin, so bin ich weit entfernt davon, sicher zu sein. Damals verstand ich nichts und wusste alles. Jetzt weiß ich alles und verstehe nichts. Ich stand also unten in dem kühlen Treppenhaus und lauschte, ohne dass meine Mutter davon wusste. Warum sang sie nicht für andere? Die Tanten erzählten immer, dass Mutter berühmt hätte werden können, ihre Stimme wurde bewundert, als sie in die Mittelschule ging, sang sie für Vereine und bei verschiedenen Treffen im Stadtviertel. Und immer bekam sie reichlich Applaus. Es hieß, sie hätte es weit bringen können, wenn sie nur mit dem Singen weitergemacht hätte. Doch Mutter legte den Gesang beiseite, und jetzt sang sie nur noch, wenn sie die Zimmer in der Stadt für sich hatte, was vormittags der Fall war, wenn Vater im Büro war und ich in der Schule. Die Wohnung war ihre Bühne, im Sommer war die Terrasse ihre Oper. Wann legte sie den Gesang ab? Als sie Vater heiratete? Als ich geboren wurde? War ich so fordernd, ich, der doch am liebsten so leise wie möglich durch die Türen ging? Nahmen wir, Vater und ich, einen so großen Platz in ihrem Leben ein, dass der Gesang, ihr Gesang, ihre Lieder, langsam aber sicher weichen mussten: Over the Rainbow. Heaven can Wait, Cheek to Cheek, We’ll Meet Again, Bei mir bist du schön, There’s a Song in the Air, Will You Remember, Whistle While You Work, Thanks for the Memory. Schon die Titel genügten. Sie erfreuten mich. Sie zogen in einem tiefen, intensiven Atemzug davon. Blue Skies war übrigens mein Lieblingstitel. Die Worte, der Rhythmus, die Melodie, alles stimmte, es war ein Lied ohne Widerhaken, das sich nicht aufhängte, einfach dahinfloss, ein Lied, das alles hinter sich ließ und nur nach vorn zeigte, also ein Lied ganz nach meinem Herzen, denn mein Herz war nicht so gebaut. Und nicht zuletzt: You Can’t Stop Me. Doch dann hörte sie doch auf. Auf wie viel Gesang hat die Welt verzichten müssen? Doch im nächsten Moment denke ich: Vielleicht hat sie bewusst aufgehört zu singen? Vielleicht war sie der Meinung, sie wäre nicht gut genug, es hätte keinen Sinn weiterzumachen. Vielleicht hat sie ganz einfach ihre Grenzen gekannt? Vielleicht war sie gerade so gut, dass sie wusste, dass sie nicht besser werden würde, und hat deshalb den Gesang auf Küche und Terrasse begrenzt? Später habe ich natürlich eingesehen, dass es meine eigene Furcht war, die ich wiedererkannte, die Furcht vor meiner eigenen absoluten Begrenzung und meiner großen Mittelmäßigkeit. Ich erinnere mich an den Tag, als mein erstes Buch angenommen wurde, eine Gedichtsammlung. Ich war 20 Jahre alt. Ich war ein Dichter. Ich würde alle Brücken hinter mir abreißen und verbrennen. Sie standen bereits lichterloh in Flammen. Ich lief den ganzen Weg von Sogn Studentby hinunter zu meiner Mutter, die zu der Zeit allein in der Wohnung herumlief, in der ich aufgewachsen war, ohne zu singen,
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