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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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und uns sonnen.«
    »Vielleicht ein andermal.«
    »Ein andermal? Es gibt nicht immer ein andermal.«
    Mutter schaute über den Fjord, zu den Bergen auf der anderen Seite, die sich in Licht und Wasserfarben auflösten. Ich wünschte, sie würde nicht so reden. Diese Worte, sie kehrten in diesem Sommer immer wieder. Ein andermal. Es gibt nicht immer ein andermal. Ich konnte diesen Refrain nicht ausstehen. Selbst wenn man ihm eine Musik unterlegte und die Sängerknaben engagierte, er würde immer falsch klingen, falsch aber wahr. Ich setzte mich und wagte nicht zu fragen, was sie eigentlich damit meinte, dass es nicht immer ein andermal gab.
    »Gibt es eigentlich Fotos von Tante Soffen, als sie jung war?«, fragte ich.
    »Was willst du denn damit?«
    »Ich frag ja nur. Ist das nicht erlaubt? Brauche ich für alles einen Grund?«
    »Und ich frage nur, warum du dich plötzlich für alte Fotos von Tante Soffen interessierst. Und deshalb musst du ja nicht gleich wütend werden.«
    »Ich bin nicht wütend.«
    »Es scheint aber so.«
    »Du hast mich noch nie wütend gesehen«, sagte ich.
    Mutter schaute mich eine Weile an, verwundert, sagte aber nichts, bevor sie ins Wohnzimmer ging und in irgendwelchen Schubladen nachschaute. Ihr gelbes Notizbuch lag auf dem Tisch. Sommer 1969. Ich hätte gern reingeschaut. Ich weiß nicht, warum. Warum sollte es mich interessieren, ihre Rechentabellen und Einkaufszettel anzugucken? Aber irgendwie hatte sich der Gedanke in mir festgesetzt, ich musste mir das gelbe Notizbuch ansehen. Sonst würde ich keine Ruhe finden. So war es um mich bestellt, wenn ich mir erst einmal etwas in den Kopf setzte, fand ich keine Ruhe, bevor ich es geschafft hatte. Ich musste mich zusammenreißen. Mutter kam mit einem Fotoalbum zurück, das sie zwischen uns legte. Ich blätterte ein paar Fotos durch, die mir nichts sagten. Dann hielt meine Mutter mich auf und zeigte.
    »Das ist sie. Das ist Tante Soffen, als sie jung war.«
    Sie sitzt in einem Korbsessel vor der Terrasse. Es ist Sommer. Die Schatten sind scharf. Das Kleid reicht ihr bis zu den Fesseln. Auf ihrem Schoß liegt ein Sonnenschirm. Das Gesicht ist rund und klein. Sie ähnelt einem Welpen. Wie lange war das her? Die Tanten waren ohne Alter. Es konnte ebenso gut vor Jesu Geburt oder um den Dreh herum gewesen sein, wenn sie damals schon einen Film in der Kamera gehabt haben, denke ich.
    »Das schönste Mädchen in Kristiania«, sagte ich.
    »Ja, sie war richtig hübsch. Alle Tanten waren hübsch.«
    Es waren noch andere Personen auf dem Foto. Hinter Tante Soffen stand nämlich ein Herr, der trug einen weißen Anzug, Hut und unter dem Bart kam eine Pfeife zum Vorschein. Er hatte die Hand auf den Stuhl gelegt und blinzelte mit den Augen, wegen des Rauchs oder des Sonnenscheins oder warum auch immer.
    »Wer ist dieser eitle Fatzke da?«
    »Rede nicht so.«
    »Wer ist dieser Gentleman?«
    »Tante Soffens Kavalier. Ein Franzose. Ich glaube, er war Musiker.«
    »Wow, deshalb kann Tante Soffen also Französisch.«
    »Hast du Französisch mit ihr gesprochen?«
    »Nein, sie hat Französisch mit mir gesprochen. Und was ist aus ihm geworden?«
    »Sie hatten wohl geplant, sich zu verloben. Aber daraus ist nie etwas geworden. Er ist zurück nach Frankreich gereist und Soffen hat nie wieder etwas von ihm gehört.«
    Es ist nie etwas daraus geworden. Die Worte trafen mich heftig und wollten mich nicht aus ihren Klauen lassen. Aus was allem nie etwas geworden ist. Aus dem meisten. Die Welt ist voll von allem, aus dem nie etwas geworden ist. Es war fast nicht auszuhalten. Auf dem Bild lächelt Soffen und guckt ganz verschmitzt, als hütete sie ein großes Geheimnis, und dieses Geheimnis, das ist die Zukunft. Wahrscheinlich ist sie glücklich. Ja, sie ist glücklich. Das beschließe ich. Das Leben ist kurz davor. Das Leben ist kurz davor, in Erfüllung zu gehen. Sie ist auf dem Sprung. Sie ist bereit. Sie ist fertig. Sie wartet nur, dass jemand »Auf die Plätze, fertig, los!« ruft, nein, nur »los!«, denn sie ist bereits auf ihrem Platz und fertig. Doch niemand rief. Wenn wir das Bild sehen, ist es vorbei. Das Rennen ist gelaufen. Was liegt dazwischen? Das, aus dem nie etwas geworden ist. Mich erfasste eine große Trauer, die Milz in mir wuchs, ich war nicht nur wegen Tante Soffen traurig, sondern auch wegen mir selbst, egoistisch wie ich war und immer noch bin, denn ich dachte plötzlich an alles, aus dem in meinem Leben auch nichts werden würde, eine Rechnung, die

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