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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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belassen.
    »Hast du das Gedicht dabei?«, fragte sie.
    »Eigentlich nicht. Ich meine, es ist noch nicht ganz fertig.«
    »Aber du versprichst doch, es mir vorzulesen? Wenn es fertig ist?«
    »Natürlich. Wort für Wort.«
    Sie lachte, und ich wurde verlegen. Wenn ich es recht betrachte, waren eigentlich so gut wie alle verlegen in diesem Sommer. Man sollte ja glauben, dass es umgekehrt war, dass in diesem Sommer, in dem die Menschen den Mond eroberten, alle hochnäsig herumstolzierten. Doch dem war nicht so. Was habe ich gerade gesagt? Wort für Wort. Ich redete, als wäre das nächste, was ich sagen wollte, in guten wie in bösen Tagen bis dass der Tod uns scheide und diese ganze Gebrauchsanweisung. Mit anderen Worten, das Gespräch stockte. Es hätte ja eigentlich genauso schön sein können, zusammenzusitzen ohne zu plappern, vielleicht sogar noch besser, aber es stand nun einmal so um mich, dass ich die Stille nicht ertrug, wenn andere zugegen waren. Allein war ich ein Mann der Stille, unbedingt, ich konnte stundenlang allein dasitzen, ohne etwas zu sagen, aber zusammen mit anderen, und ganz besonders zusammen mit ihr, die Heidi hieß, war die Stille unmöglich.
    »Hast du Moby Dick gelesen?«, fragte ich.
    »Ne, habe nur davon gehört.«
    »Du solltest das lesen. Es handelt von einem Albinowal von sechzehn Tonnen, den niemand besiegen kann.«
    »Ein Albinowal? Gibt es so was?«
    »Aber ja. Ein weißer Wal. Es gibt nicht viele davon. Vielleicht nur einen einzigen. Wenn man nachzählen würde. Aber dafür ist der eine ungewöhnlich alt geworden, weißt du. Wenn du willst, leihe ich es dir. Das Buch meine ich, nicht den Wal. Wenn du willst? Eigentlich kann ich es dir auch schenken.«
    Plötzlich merkte ich, dass Heidi mich nur anstarrte, während sie versuchte, ein Lächeln in dem einen Mundwinkel zu verbergen, in dem rechten, was ihr aber nicht gelang, und so hatte sie offenbar schon die ganze Zeit dagesessen, während ich in den Leerlauf geschaltet hatte und der Oslofjord in Nebel und Abgasen dalag.
    »Apropos weißer Wal«, sagte sie, »du solltest dich ein bisschen sonnen.«
    »Schriftsteller sonnen sich nicht.«
    »Ach, nein?«
    »Die waschen sich stattdessen mit Essig.«
    »Nennen sie dich deshalb Chaplin?«
    Jetzt kam ich nicht mehr ganz mit, ich musste mich ziemlich anstrengen, um eine Verbindung zwischen einem Albinowal, Schriftsteller, Essig und Chaplin zu finden, selbst ich, der Bezirksmeister in Bildern, geriet in Verlegenheit, in noch größere Verlegenheit. Stellte sie mich auf die Probe? Ja, das tat sie. Sie stellte mich auf die Probe. Ich kam in die mündliche Prüfung in Metaphern. Plötzlich entspannte ich mich vollkommen, ich habe keine Ahnung, wieso, es kam einfach über mich, während ich zusammen mit einer Seelenverwandten in einer stillen Ecke des Sommers saß. Musste ich nicht einfach nur sagen, wie es war? Und wenn ich es tat, dann würde sie vielleicht meine Ehrlichkeit belohnen und ich konnte mich vielleicht mit ein wenig mehr als ihrer Seele verbrüdern.
    Ich zeigte auf meinen rechten Fuß.
    »Ich bin mit den Füßen zuerst geboren worden«, sagte ich.
    »Ach ja?«
    »Das ist äußerst selten. Einer von Hunderttausend. Vielleicht ein paar mehr, ich meine weniger. Wie gesagt. Äußerst selten.«
    »Das hoffe ich wirklich. Schon um der Mutter willen.«
    Mir schien, sie nahm das nicht ernst genug.
    »Ich hätte einen Klumpfuß kriegen können«, sagte ich.
    Im gleichen Moment bereute ich, was ich gesagt hatte. Ein Klumpfuß war nicht gerade etwas, womit man prahlen konnte. Ich musste härter zu Werke gehen.
    »Ich hätte einen Hallux valgus kriegen können. Weißt du, was das ist? Dabei verknoten sich die Zehen zu einem einzigen Knäuel, und es ist unmöglich, sie wieder auseinanderzukriegen. Im schlimmsten Fall hätten beide Beine amputiert werden müssen. Was mir zum Glück erspart geblieben ist. Wie du sehen kannst.«
    »Beide?«
    »Alle beide. Im besten Fall nur einer. Vom Knie abwärts.«
    »Und deshalb nennen sie dich Chaplin?«
    »Der Fuß, nicht wahr? Der steht im Winkel ab. Genau wie bei Chaplin, nicht wahr. Obwohl bei dem beide Schuhe nach außen zeigten. Was hast du denn gedacht?«
    »Weil du einem Schwarz-Weiß-Film ähnelst.«
    »Aber ich bin nicht stumm«, sagte ich. »Findest du, ich sollte mit einem Stock gehen?«
    Heidi lachte kurz auf, legte sich ganz hin, die Sonne schien auf ihren Körper. Wenn sie nur gewusst hätte. Wenn sie nur gewusst hätte, wie wahr sie gerade

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