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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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nach ein paar Tagen am Haken haben können, einen Wittling mit Speichen statt Gräten. Doch ich tat es nicht. Das war nur etwas, das ich erdichten konnte. Etwas, das ich erfand. Und genau so bin ich. Habe ich es nicht gesagt. Alles nur im Kopf. Das ist meine Devise. Ich radelte nach Hause. Mutter saß immer noch auf der Terrasse und blätterte in ihrem kleinen gelben Notizbuch. Sie führte wohl Buch über die Waren, die sie in der letzten Woche vom Kaufmann bekommen hatte, und außerdem musste sie eine Einkaufsliste für die nächste Woche aufstellen. Als sie mich sah, fing sie zunächst an zu lachen. Anscheinend lachten alle an diesem Tag. Hatte ich da etwas nicht mitbekommen? War es der internationale Tag des Lachens, ausgerufen von der UNO ? Hatte die Nato beschlossen, dass alle Einwohner der Mitgliedsstaaten am 14. Juli lachen sollten? Oder war es etwas, das die Regierung Borten beschlossen hatte? Sollte ich auch lachen? Ich lachte nicht.
    »Du hast einen Sonnenbrand«, sagte Mutter.
    »Tatsächlich? Wie schön, dass du mich darauf hinweist. Da bin ich aber erleichtert.«
    »Du brauchst deshalb nicht wütend zu werden.«
    »Ich bin nicht wütend. Warum sagst du, ich bin wütend, wenn ich es gar nicht bin? Hä?«
    Eine Weile blieb Mutter stumm, sah mich nur an, und genau in dem Moment war ich sicher, dass sie meine Scharten sehen konnte. Einen Moment lang hätte ich ihr am liebsten meinen Kopf in den Schoß gelegt und sagen wollen, sieh meine Scharten, bitte, sieh sie an.
    »Ich hole dir eine Salbe«, sagte Mutter.
    »Lieber Essig bitte.«
    »Ist etwas passiert, dass du so wütend bist?«
    »Jetzt hast du es wieder gesagt! Ich bin nicht wütend! Warum sollte ich wütend sein?«
    »Das frage ich ja gerade. Aber auf jeden Fall brauchst du nicht wütend auf mich zu sein.«
    »Wenn du noch einmal behauptest, ich wäre wütend, dann werde ich wirklich wütend!«
    Ich stieß aus Versehen eine Tasse um, ging an Mutter vorbei, in mein Zimmer hoch. Es knackte in der Haut. Ich wagte mich vor den Spiegel und schrie. Auch mein Gesicht war verbrannt. Ich sah aus wie eine angeschwollene Pflaume. Vielleicht ging das nie wieder weg. Vielleicht war ich zu ewiger Röte verdammt, als Strafe. Wenn es irgendeinen Teufel von einem Gott da oben links vom Mond gab, und wenn der hinunterguckte, dann hatte er mich, Christian, Chris, Chaplin, Blackie oder Funder, nennt mich doch, wie ihr wollt, zu ewigem Sonnenuntergang verdammt. Dann würde ich mich also für immer und ewig einschließen und nur durch den Briefschlitz und das Schlüsselloch Kontakt mit der Menschheit halten. Eines war auf jeden Fall sicher: Ich würde mich nie wieder im Spiegel ansehen. Das versprach ich auf Ehre und Gewissen. Nie wieder ein Spiegel! Dann versuchte ich das Gedicht weiterzuschreiben, das noch gar kein Gedicht war, nur ein Titel, der mir übrigens immer weniger gefiel. Aber es ist nicht möglich zu schreiben, wenn die Haut knackt und man einer abgestorbenen Pflaume gleicht. Stattdessen öffnete ich Moby Dick und versuchte zu lesen. Es ist wahr, was ich gesagt habe, der Roman wurde mit jeder Seite, die ich umblätterte, immer dicker. Jeder Satz war wie ein Hindernis, das ich überwinden musste, jedes Hindernis wurde höher und höher, und als ich auf der nächsten Seite war, musste ich wieder zurück, um zu sehen, ob ich auch alles mitbekommen hatte. Und so ging es immer weiter, das heißt, es ging überhaupt nicht weiter. Es ging in die andere Richtung. Es ging zurück. Ich las rückwärts und endete jedes Mal, wenn ich versuchte weiterzukommen, mit »Nennt mich Ismael«, und es sollte noch schlimmer kommen, ich las ganz bis dorthin, wo der Roman noch gar nicht angefangen hatte, und zum Schluss blätterte ich in der Luft. Ich warf den ganzen Moby Dick mit aller Kraft an die Wand, der Rücken brach, und so ungefähr 703 Seiten segelten zu Boden und legten sich dort in so vielen umgekehrten Reihenfolgen hin, dass ich sie auch gleich zusammenfegen und in den Papierkorb werfen konnte. Als es in mir still wurde, hörte ich, wie Mutter draußen auf der Terrasse saß und sang, es war mein Lied, Blue Skies, das davontreibt, mit dem ich davontreiben kann, das nie aufhört, sondern immer weiterzieht in Refrains der Sonne. Ich wurde so übermütig, dass ich nicht mehr halten konnte, was ich versprochen hatte, und mich wieder zum Spiegel drehte. Ich musste den Mund hinter beiden Händen verstecken, um nicht zu schreien. Jetzt hatte ich auch noch die Masern bekommen. Das

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