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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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einem Kratzeisen in der Hand runterrutschen. Er hatte nämlich nicht nur Farbe und Pinsel dabei, er hatte auch Kratzeisen, Schmirgelpapier und Silberputzzeug mitgebracht. Iver ließ nicht locker. Es führte kein Weg drumherum. Ich holte die Leiter, und Iver lief fast die Sprossen hinauf, während ich auf dem Grund der Erde stehen blieb und die Leiter hielt. Mir kam der Gedanke, loszulassen und einfach meines Weges zu gehen, zum Badehaus, zu den Uferfelsen, zu allem, was weit fort war, zu allem, was nichts mit Iver Malt zu tun hatte. Doch es blieb bei dem Gedanken. Man konnte es aufschreiben. Allein der Gedanke, dass ich den Gedanken, den ich gehabt hatte und aus dem nichts wurde, aufschreiben konnte, erfüllte mich mit Saus und Braus. Ich hielt die Leiter noch fester, damit Iver nicht Gefahr lief, seinen letzten Kopfsprung zu machen. Bald schneiten trockene Flocken auf mich herab. Sie sahen aus wie tote, zerfetzte Schmetterlinge. Ähnlich wie die Seiten in Moby Dick. Dann ging es ans Streichen. Iver versicherte mir, dass es genau die gleiche Farbe war wie die alte. Hatte er nicht das letzte Mal, als er hier gewesen war, eine Flocke mitgenommen, um sicher zu gehen? Iver passte auf. Iver dachte an alles. Iver plante. Er lief wieder hoch und malte sich nach unten. Zum Schluss fehlte nur noch die Krone des Werks, die Kugel, oder die Kuppel, wie die Tanten sie nannten. Iver nahm Schmirgelpapier und Silberputzzeug mit und fuhr zum dritten Mal gen Himmel. Während er dort oben unter dem straffen, hellblauen Himmel zu Werke ging, blieben Mutter und Frau Witwe Gerüchteköchin Gulliksen vor der Pforte stehen. Als sie Iver Malt entdeckten, der Flagge spielte, blieben ihnen die Münder offen stehen. Dann kam Mutter schreiend angelaufen:
    »Komm da runter! Jetzt! Augenblicklich!«
    Aber Iver Malt kam nicht herunter und schon gar nicht augenblicklich. Ich weiß nicht, ob er das große Zittern bekam oder sich einfach nicht drum scherte. Mutter packte auch die Leiter und rief weiter. So wütend hatte ich sie noch nie gesehen, denn die Wut war mit Angst vermischt, und keiner ist wütender als jemand, der Angst hat. Ihr Gesicht zog sich zusammen. Eine Windböe fegte Ivers Mütze davon. Mutter schrie noch lauter, wobei sie gleichzeitig leise und eindringlich mit mir sprach, so schien es zumindest, und ich erwartete eine saftige Standpauke nachdem das hier hoffentlich für alle ohne allzu viele Gefallene vorbei war.
    »Auf was für Ideen kommt ihr bloß? Mein Gott. Er kann ja umkommen.«
    »Wir wollten doch nur eine Überraschung …«
    »Eine Überraschung! Ja, ich muss schon sagen, die ist euch gelungen!«
    Da wurden wir von diesem Lautsprecher Witwe Gulliksen unterbrochen, die immer noch an der Pforte stand und sich so einen Auftritt wie diesen nicht entgehen oder außer Acht ließ. Jetzt war sie an der Reihe herumzujohlen, aber sie hatte etwas anderes auf dem Herzen.
    »Finden Sie es wirklich richtig, dass so ein Dreckslümmel den Fahnenmast repariert?«
    Da geschah etwas mit Mutter. Der Knoten in ihrem Gesicht löste sich. Doch ihre Augen blieben hart. Sie ließ die Leiter los, ihr Rock war voller Farbflecken, was sie aber offensichtlich nicht bekümmerte, und sie schaute lange diese Gulliksen an, die sich an unserer Pforte niedergelassen hatte.
    »Was meinen Sie denn damit?«
    »Das wissen Sie doch nur zu gut, meine Liebe.«
    »Nein, leider nicht. Ich weiß nicht zu gut, was Sie meinen.«
    Die aufdringliche Gulliksen zeigte auf Iver Malt, der barfuß und barhäuptig auf der obersten Sprosse stand und die Kuppel putzte, als wenn nichts geschehen wäre.
    »Dass so einer, der Sohn eines Deutschenliebchens, unseren Fahnenmast streichen darf!«
    Mutter stemmte die Fäuste in die Seiten, ihre Schultern wurden dabei breiter, und da wusste ich, dass es Ernst war. Oh Scheiße, was war ich da schon stolz auf sie.
    »Haben Sie etwas an seiner Arbeit auszusetzen?«
    »Was?«
    »Dann dürfen Sie gern herkommen und es sich genauer ansehen. In meinen Augen sah unser Fahnenmast nie schöner aus.«
    Die Witwe Beleidigt Gulliksen wollte das offensichtlich nicht, und sie hatte auch bis auf ein Schnauben nichts mehr auf dem Herzen. Mich durchfuhr der Gedanke, dass sie jetzt ein für allemal verschwand. Gullikse. Gulliks. Gullik. Gulli. Gull. Gul. Gu. G. Und zum Schluss radierte ich das G aus und pustete den Staub in die große Sonnenhitze. Dass mir das nicht schon früher eingefallen war. Dass es so einfach war. Dann endlich kletterte Iver herunter.

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