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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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jetzt ließ er all seine Röte den ganzen Tag über auf uns fallen.
    »Wie witzig«, sagte ich.
    »Ich habe doch Moby Dick gemeint, du Schwachkopf! Wer hat gewonnen?«
    Ich zögerte nicht, tippte auf den Wal, und außerdem hatte Iver das Buch ja nicht gelesen, deshalb konnte ich antworten, was ich wollte.
    »Der weiße Wal hat gewonnen.«
    »Der Wal? Wieso das?«
    Ich befand mich auf schwankendem Boden. Ich hätte gewünscht, der Sommer wäre bald vorbei.
    »Weil man sich nicht mit einem weißen Wal anlegt«, sagte ich.
    Da erlebte ich etwas Sonderbares. Iver Malt wurde wütend. Ich sah es ihm an. Er wurde richtig wütend. Hatte er das gemeint, als er sagte, ich hätte ihn noch nie wütend gesehen?
    »Scheißbuch! Hol dich der Teufel!«
    »Ich habe es nicht geschrieben. Beruhige dich.«
    »Hol dich trotzdem der Teufel.«
    »Was ist denn so schlimm daran, dass der Wal gewinnt?«
    »Wie bitte, sollen die Tiere über die Menschen gewinnen?«
    »Der Wal ist der Größte«, sagte ich.
    »Ja und? Bei einer Elchjagd, auf wessen Seite stehst du da? Der des Jägers oder des Elchs?«
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Auf keiner.«
    »Geht das?«
    »Ja.«
    »Glaube ich nicht.«
    Eine Weile sagten wir nichts. In meinem tiefsten Inneren, wo immer das auch sein mochte, hoffte ich, dass es nun mit uns beiden beendet war, nachdem wir den Fahnenmast gestrichen, Koteletts gegessen und über Moby Dick gesprochen hatten. Das musste reichen. Iver brach als Erster das Schweigen.
    »Wollen wir morgen angeln?«
    »Ich habe eine Verabredung«, log ich, »ein andermal.«
    »Mit Heidi?«
    »Das geht dich nichts an.«
    Iver stand schnell auf.
    »Ich kann dir mein anderes Geheimnis zeigen.«
    »Kannst du es mir nicht einfach erzählen? Wenn du unbedingt …«
    Er unterbrach mich.
    »Nein. Du musst es sehen.«
    Dann lief er hinunter zur Pforte und war bald außer Sicht. Ich wünschte, für immer. So dachte ich damals. Er ließ mich nicht in Ruhe. Ich wollte meine Ruhe haben. Ich machte schon allein genug Lärm. Er war wie eine Klette. Ich wollte mit dem Gedicht über den Mond weiterkommen. Der Plan war, dass ich in der Nacht, in der die Menschen den Mond vergewaltigten, nur noch eine Zeile zu schreiben hatte. Der einzige Mensch, dem es erlaubt war, mich in der Zwischenzeit zu stören, war Heidi, aber vielleicht war sie nicht besonders scharf darauf, mich noch weiterhin zu stören, was wusste denn ich, nichts, ungefähr so viel wusste ich. Der Fjord wechselte sein Muster. Da bemerkte ich wieder das gelbe Notizbuch. Es lag unter dem Tisch. Ich hob es auf. Auf der Titelseite standen Mutters Name und die Jahreszahl. Sommer 1969. Ich wollte es unbedingt öffnen. Es war, als könnte ich mich nicht zurückhalten. Ich musste es tun. Doch in dem Moment kam Mutter und blieb abrupt in der Tür stehen, die zum schattigen Wohnzimmer hin offen stand. Schnell legte ich das Notizbuch hin.
    »Was würdest du dazu sagen, wenn ich nachgucke, was du schreibst?«, fragte sie.
    Ich war kurz davor zu erklären, dass es ja wohl einen gewissen Unterschied zwischen Gedicht und Abrechnung und Einkaufslisten gab, falls ihr das vielleicht nicht klar war. Ich hätte auch sagen können, dass ich nicht ein verdammtes Wort geschrieben hatte, weshalb sie so viel gucken konnte, wie sie wollte.
    »Entschuldigung«, sagte ich.
    Mutter setzte sich.
    »Kannst du nicht heute mit an den Strand kommen? Es ist jetzt so schön da.«
    »Vielleicht.«
    »Ist deine Mutter dir peinlich?«
    »Natürlich nicht. Mir peinlich sein? Warum solltest du mir peinlich sein?«
    »Ich weiß nicht.«
    In dem Moment, genau in dem Moment hätte ich es sagen können, dass ich stolz auf sie war.
    »Warum hast du das gemacht?«, fragte ich stattdessen.
    »Was gemacht?«
    »Mit der Gulliksen geschimpft.«
    »Weil sie nicht das Recht hat, so über Iver zu reden. Außerdem habe ich nicht geschimpft.«
    »Wie nennst du das denn sonst?«
    »Sie zurechtgewiesen. Manchmal muss man das tun.«
    »Na, jetzt kannst du jedenfalls nicht mehr Vater anrufen.«
    »Alles hat seinen Preis.«
    »Du kannst von der Fähre aus anrufen.«
    »Siehst du. Alles lässt sich regeln. Ich soll übrigens grüßen. Er muss den Gips noch bis zum August behalten.«
    »Ich dachte, es wäre nicht so schlimm? Letztes Mal hast du gesagt, dass der Fuß nur verstaucht ist.«
    Mutter zündete sich eine Zigarette an und verschwand fast in einer blauen, unruhigen Wolke, in einer Gleichgültigkeit oder einer Achtlosigkeit, die ich ihr gönnte und die mir

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